Ruminarium

Zurschausstellung meiner Grübeleien


Die Toten Hosen im SO36, 2018

© JKP

Konzertbericht zum Konzert am 07.11.2018 im SO36, Berlin. Zuerst erschienen im dth-live.de-Forum am 08.11.2018


Prolog

Ich erinnere mich genau an den Moment damals. 2009. Als mich der Blitz traf und ich lernte, was es hieß, unterinformiert zu sein. Ich bin sicher, dass das der Moment war, als ich hier im Forum zum regelmäßigen (damals vorerst stillen) Mitleser wurde. Nie wieder sollte mir soetwas grob Fahrlässiges passieren:

Ich hatte damals das SO36-Konzert nicht nur einfach verpasst – ich wusste nicht einmal davon! Erst zwei Tage später hatte ich davon erfahren.

Seitdem stand diese Schmach über mir. Das musste ausgebügelt werden. Sollte sich jemals die Möglichkeit dazu ergeben …

Kapitel 1: Der Ticketkauf

Es gab im Vorfeld Gerüchte über ein mögliches, neues SO36-Konzert. Ich hatte schon einige Monate vorher davon gehört. Aber was sind schon Gerüchte? Wenn ich allen Gerüchten um die Hosen auch nur einen Hauch ernsthafter Beachtung schenken würde, käme ich aus aufgeregtem Rotieren nicht mehr heraus.

Ich buchte erstmal Argentinien. Ein Wunsch, der mir sehr lange auf der Seele brannte. Vorletztes Mal wollte ich schon mit, da war es finanziell einfach nicht machbar. Letztes Mal war ich noch mitten in einem unbestimmt teuer werdenden Scheidungsverfahren. Dieses Jahr war alles abgeschlossen. Ich durfte mich belohnen. Mendoza und Buenos Aires also. Zwei Konzerte der Band dieses Jahr noch.

Oder drei? Sollte an den Gerüchten doch etwas dran sein? Die Vorgeschichte von vor fast zehn Jahren packte mich im Innersten. Sollte es tatsächlich die Chance geben, diese Schmach auszubügeln? Abwarten. Dezember wurde spekuliert.

Als ich den Abflug nach Argentinien buchte, stellte ich schnell fest: Das wird eine Hammerwoche. Aus mir unerfindlichen Gründen, ist es mir dieses Jahr immer so ergangen, dass Events stets geballt auftraten, dafür aber lange Lücken existierten. Und auch hier war es so. Ich hatte den Abflug am Samstag gebucht. Mit einem Saltatio-Mortis-Konzert am Freitag davor. Das könnte interessant werden. Außerdem hatte ich eine Konzertkarte für Nightwish am Montag der gleichen Woche. Auch nicht schlecht: Zwei Konzerte in der Woche direkt vor Argentinien. Meine bessere Hälfte wurde mir etwas böse: Nicht nur, dass ich ohne sie ans andere Ende der Welt reisen würde, ich verbrachte quasi auch noch die gesamte Woche davor ohne sie und amüsierte mich.

Und dann kam der SO36 Termin rein. Wahrlich! Er existierte also doch! Und er lag nicht im Dezember, sondern in der Hammerwoche. F**K!!!

Aber das war egal. Ich wusste zwar, dass sie mir böse sein würde, aber deshalb machte ich einen Kompromiss: Wenn ich für den Mittwoch Karten kriegen würde, dann würde ich Freitag zu Hause bleiben.

Doch dazu sollte es nicht kommen. Ich habe vier Freunde rangesetzt, mir eine Karte im Online-VVK zu klicken. Keine Chance. Irgendwie war ich sogar ein bisschen froh. Es wäre rein konditionell echt hart für mich geworden. Und außerdem war da ja noch dieses Versprechen. Ich durfte also Freitag noch rocken gehen. Und sowieso, ich würde ja sicherlich eh ein großartiges Clubkonzert eine Woche später in Mendoza sehen. Sollten ruhig die hingehen, die sich den Weltreise-Trip nicht einrichten können. Und überhaupt. Und und und…

Heuchelei. Ausreden. Zur Selbstberuhigung. Nichts anderes.

Es gab ja noch diese winzige Chance – eigentlich war es sogar ganz einfach: Einfach nur rechtzeitig für die Restkarten anstellen. Aber nein. Hier war ich vernünftig. Ich bin viel zu schnell erkältet. Ich würde Argentinien ziemlich sicher aufs Spiel setzen, würde ich da eine Nacht in der Kälte verbringen. SO36 oder der gesamte Argentinien-Trip. Die Wahl war klar.

Ich verfolgte die Standmeldungen hier im Forum. Am Abend vorher wurden schon zwischen 60 und 100 Leute gemeldet. Ja, damit war das klar. Ich ging ins Bett. Um fünf Uhr morgens war ich kurz wach. Ich hatte mit einem halben Gedanken daran gedacht, aufzustehen. Doch bei hundert Leuten schon vor Mitternacht würde dort jetzt garantiert die Hölle los sein. Der Wecker klingelte um sieben Uhr. Ich schaute nach. Standmeldung 7:10Uhr: 165 Leute.

165 Leute. Bei möglichen 200 Tickets. (Ehrlich gesagt, hatte ich keine Ahnung, woher ich diese Zahl nahm, aber ich hielt mich an ihr fest.) Das erschien irgendwie machbar. Ich stürzte los – nur ein kleiner zusätzlicher Schlenker durch Kreuzberg auf dem Weg zur Arbeit. Nur mal gucken. Kostet ja nichts. Im Zweifel den Helden auf den ersten Plätzen applaudieren.

Leider ist Berlin immer nicht so klein, wie man es manchmal gern hätte. Schon gar nicht im Berufsverkehr. So dauerte es noch eine geschlagene Stunde, bis ich vor Ort war. Rein von der Optik sah die Schlange gar nicht sooo lang aus. Und deswegen verlängerte ich sie. Plus eins. Punkt 8:10Uhr. Die beiden Mädels, die zwei Minuten nach mir kamen, und die drei netten Typen vor mir, wir feixten. Einfach mal anstellen um des Anstellens willen. Wenn es klappt, dann wäre es toll, wenn nicht – nur gerecht. Wie könnte man sich auch erdreisten, sich keine 50 Minuten vor VVK-Beginn anzustellen und dann noch auf Erfolg zu hoffen? Blödsinn.

Wir hatten eine tolle (natürlich im Vergleich zu den Leuten vorne eine sehr kurze) Zeit. Dann gingen die Türen auf. Zuerst tat sich hinten rein gar nichts. Sicherlich hatten auch die Drängler dazu einen Beitrag geleistet. Die waren ärgerlich, das tolle Nummerierungskonzept der Ewigwartenden ging weiter hinten nicht mehr wirklich auf. Aber hey, wie groß war die Chance denn wirklich – ob mit oder ohne Drängler? Andererseits spukte diese Zahl im Kopf. 200. Die letzte für mich sichtbare Nummerierung war die 186. Ich zählte nach. So etwa fünfzehn Leute trennten uns. Das könnte haarscharf werden. Aber war diese Zahl überhaupt realistisch?

Und dann ging es vorwärts. Eigentlich die ganze Zeit unbemerkt. Genau genommen kann ich mich nicht erinnern, aktiv weiter gelaufen zu sein. Außer in den Momenten, als die Schlange sich einfach nur verdichtete. Aber irgendwann unterquerten wir diese Markise. Und dann vorbei an jenem Laden. Wir waren echt vorgerückt. Und noch wurden Karten verkauft. Unsere kleine Sechsergruppe hörte langsam auf zu feixen. Sollte es tatsächlich…, also echt jetzt? Unsere Nervosität stiegt umgekehrt proportional zur Länge der Schlange vor uns: Je kürzer sie wurde, umso näher war ich dem Herzanfall.

Wir konnten den Einlasser sehen. Immer und immer wieder drehte er sich um und erkundigte sich nach der Anzahl der Restkarten. Die Mimik war beängstigend. Wir befanden uns inzwischen in der „Zone der Ärgernis“: Zu nah dran, um es noch gelassen zu nehmen, würde jetzt dicht gemacht. Selbst für so Unverschämte wie uns. Wir konnten rein schauen in den Laden. Die Bändchen wurden bereits buchstäblich nur noch aus irgendwelchen Ecken gekratzt. Noch zwei Leute vor uns. Und dann waren die ersten beiden von uns drin. Und sie brauchten zu lange. Ich brach fast zusammen. Wie heftig war das denn bitte? Würden sie die letzten sein?

Nein. Die Tür öffnete sich ein weiteres Mal. Die zwei nächsten. Wir waren drin! Ich sank erst einmal vor dem Tresen zusammen! Und dann sah ich: Es gab noch genau fünf Bändchen. Zwei für uns beide. Eines für den Kiffertypen, den wir für einen Straßenpenner hielten, der uns aber die ganze Zeit irgendwie begleitete und uns Gras verkaufen wollte. Und den keiner von uns ersthaft als Teil der Schlange ansah, obwohl er immer neben uns ausharrte. Und die beiden Mädels.

Wir kamen raus. Durften uns aber nichts anmerken lassen. Aus Fairness auch denen gegenüber, von denen wir nun wussten, dass sie es nicht mehr schaffen würden. Die Mädels wurden reingelassen – und der Rest nach Hause geschickt. Unsere Sechsergruppe (und der Kiffertyp, der tatsächlich eine Karte kaufte!) war tatsächlich das absolute Ende.

Schnell weg. Die Tränen flossen hinter uns. Nachvollziehbar. Wir wollten unser unverschämtes Glück nicht vor denen auskosten, die leider leer ausgegangen waren. Ich hatte Bändchen 217 von 220 am Arm. Ich hätte keinen einzigen Bus später besteigen dürfen.

Kapitel 2: Das Konzert

Ich konnte mein Glück den ganzen Tag lang nicht fassen. Nie im Leben hätte ich daran geglaubt, tatsächlich im SO36 stehen zu dürfen an diesem Abend. Ich hatte immernoch dieses Unrechtsgefühl. Dieses: Alle standen ewig dafür an und haben sich ihr Ticket hart erarbeitet. Und wir Glückspiraten waren einfach so drin. Irgendwie. Hammer! An Arbeit war an dem Tag nicht mehr zu denken. Ich habe sehr schnell kapituliert. Zu spät erschienen, zu früh gegangen. Wofür gibt es denn schließlich Überstunden? Ich zitterte noch Stunden später. Aber das Grinsen ging nicht aus dem Kopf.

Auf das WarmUp mit TV Smith war ich durchaus gespannt. Schon viel Positives gehört. Und dann diese Legende. Das SO36. Die Hosen. Und ich mitten drin.

Vor der Tür konnte ich noch ein paar Kontakte schließen für Argentinien. Drinnen fanden sich vier unserer kleinen Gruppe und ein nettes Mädel von ein paar Plätzen vor uns („Ihr seid echt noch reingekommen?!“) zusammen. Und wir feierten. Erstmal eine Runde Bier! Auf die Schlange! Auf die Punktlandung!

Tja und dann trat TV auf. Es war wirklich toll. Ich mag den Mann irgendwie. Ich denke, ich kaufe mal ne Platte von ihm. Punkt.

Was soll ich groß von dem eigentlichen Konzert schreiben? Ich habe das Gefühl, dass Nichts dem gerecht werden könnte, was real dort geschah. Es war eine Wucht. Intro mit Pirates of the Caribbean. BÄM. Eröffnung mit einer absoluten Konzertrarität. BÄÄM. Urknall. BÄÄÄM. Und noch eine Rarität. Und noch eine. Und noch eine. BÄÄÄÄM. BÄÄÄÄÄÄÄM. BÄÄÄÄÄÄÄÄM. Was passierte hier gerade? Was war hier los? Und wie zur Hölle soll ich das hier überleben? Wo bleiben die Stinker wenn man sie mal brauchte? Wie sollte man denn hier verschnaufen? Wo blieb Tage wie dieser, wenn man es mal braucht?

Ich schwankte zwischen Euphorie und schnell einsetzender Konditionsschwäche. Der Saal war ein Hexenkessel. Die Temperatur unerträglich. Die Masse in positiver Panik. Immer wieder flog ich an bekannten Gesichtern vorbei. Alle hatten dieses beängstigende Joker-Grinsen im Gesicht. Stets und immer. Es war der Hosen-Himmel. Wir mussten alle tot sein. Es gab keine andere Erklärung. Und es ging immer weiter. BÄÄÄM. BÄÄÄM. BÄÄÄM.

Es ist schwer zu beschreiben. Jede Rarität schraubte die Erwartungen noch höher. Songs, die man irgendwann schon einmal live gehört hatte, waren gefühlt irgendwie schon die Ausnahme. Mir fehlen wirklich die Worte, dies treffend zu beschreiben – aber Songs wie Reisefieber oder Verschwende deine Zeit waren plötzlich auf einer total irren Skala von High-Level-Meckern die Langweiler! Was könnte noch alles passieren? Wie lange würde es so weiter gehen? Und wann kommt endlich TWD?

Ich bin mir sicher, dass ich meine Euphorie irgendwann nicht mehr steigern konnte. All die Großartigkeiten der Setlist konnte ich irgendwann gar nicht mehr im Einzelnen erfassen. Ich befand mich in einem Zustand, den ich mangels Begrifflichkeit als „Raritäts-Trance“ bezeichnen möchte. Es hörte nicht mehr auf. Nur die einzelnen Stücke, bei denen ich überrascht feststellte, nicht textsicher zu sein, weckten mich ein Stück weit auf und gaben mir die Chance, durchzuatmen.

Die T-Shirts waren allenthalber nur noch Wasserhalter. Jedes einzelne Kleidungsstück in diesem Saal konnte ausgewrungen werden – Schweiß und Bier! Und endlich kam You’ll Never Walk Alone, das traditionell letzte Stück. Traurig, dass der Abend „schon“ zu Ende sein sollte. Aber glücklich, endlich verschnaufen zu können.

Und dann noch eine Zugabe. Geil. Und noch eine. Auch danach war die Menge unersättlich. Voller Inbrunst wurde das Outro Keinen Grund zur Traurigkeit mitgesungen. Und die Zugabe-Rufe endeten nicht. Immer wieder ging ein Chor los. Immer wieder brandete Applaus auf.

Es war der perfekte Hosen-Abend. Leute, wenn jetzt das Flugzeug nach Buenos Aires am Wochenende abstürzt: Ich habe gestern mein Leben gelebt!

Epilog

Dieses Konzert in seiner Größe zu begreifen, dürfte mir noch recht schwer fallen. Es war wie ein Traum. Und selbst jetzt, eine Nacht später, erscheint es mir wie ein solcher, aus dem man einfach nicht erwacht.

Wenn man eine Sache bemängeln kann, dann ist es die, dass diese Setlist, diese Power, diese absolut großartige Zeit, nur einer handvoll Privilegierten und Glückspiraten zugänglich gemacht wurde. Ich kann jeden verstehen, der sich jetzt ärgert. Und so böse es aus meiner Position heraus auch klingt: Ich hätte mir jetzt ebenso in den Arsch gebissen, dass ich nicht mehr riskiert hätte.

Es wird für immer ein unvergessener Augenblick meines Lebens bleiben. Ähnlich wie das großartige Konzert im Huxley’s vor fünf Jahren. Ja, ich hatte Glück. Ja, ich schäme mich ein wenig dafür. Aber ich werde ewig davon zehren.

Und dann ist es das auch Wert, dass ich die Konzertkarte für morgen bereits verkauft habe und mir einen gemütlichen Abend im Kreis der Liebsten machen werde. Irgendwo zwischen Erinnerung an Mittwoch und Vorfreude auf das andere Ende der Welt.



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