Ruminarium

Zurschausstellung meiner Grübeleien


#Baseballschlägerjahre

Die grundlegende Geschichte erschien als sehr stark gekürzte Rohfassung am 01.11.2019 als Thread auf Twitter als Beitrag zum Hashtag #Baseballschlägerjahre und hat leider nichts von ihrer Aktualität verloren.


Nazis begleiten mich eigentlich schon mein ganzes Leben. Ich bin mit ihnen als Grundbedrohung des Lebens aufgewachsen wie mit der Angst vor einem Atomkrieg, der Umweltverschmutzung und einem Wohnungsbrand.

Ich bin in Cottbus aufgewachsen, Stadtteil Neu-Schmellwitz. Neu-Schmellwitz war eine um die Wende errichtete Plattenbausiedlung. Als meine Eltern so um 1991 mit mir dort hinzogen, war dies ein Erstbezug der Wohnung. Ich empfand die Gegend als Kind nicht als schlimm. Die ebenfalls komplett neu errichtete, sehr moderne Grundschule lag nur wenige Gehminuten von unserer Haustür entfernt und die meisten Freunde und Schulkameraden wohnten nur einen Steinwurf voneinander entfernt. Man ging damals einfach von Tür zu Tür, klingelte und fragte ob Steffen, Sven oder Paul runterkommen könnten zum Spielen. Das Viertel war damals noch eine halbe Baustelle und so vergnügten wir uns wortwörtlich damit, uns mit Dreckklumpen zu bewerfen, was durchaus die eine oder andere Platzwunde nach sich zog. Die noch dastehenden Müllcontainer waren unsere Spielplätze und nicht selten fanden wir darin noch irgendwelche, vermutlich giftigen, Sprühdosen, mit denen wir uns gegenseitig jagten. Wir markierten kurzerhand willkürliche Bereiche im Bausand mit Schulranzen und nannten es Fußballfeld und irgendjemand kam auf die Idee, dass die herzförmigen Blätter des dort zuhauf wuchernden Unkrauts doch essbar und lecker wären. Wir hatten keine Probleme mit alldem. Wir waren extrem jung und wir kannten nichts anderes. Wir hatten meistens ziemlichen Spaß.

Symbolfoto, aber tatsächlich erinnere ich mich an genau so einen Erdhaufen.
(CC-BY-SA 4.0, Gerd Danigel, Wikimedia Commons)

Wenige Jahre später wichen diese Brachen eindrucksvollen, modernen Spielplätzen und Sportanlagen, auf denen wir nun die meiste Zeit verbrachten und unzählige Fußballturniere austrugen. Und hier begegneten sie mir zum ersten Mal: Die Großen. Die Großen waren die Jugendcliquen des Viertels. Heute würde ich sagen, Gruppen von Halbstarken um die 16, 17 Jahre alt. Wo immer diese Gruppen auftauchten, galt für uns der geordnete, taktische Rückzug. Die Großen waren nicht bekannt für ihre Freundlichkeit. Überall, wo sie auftauchten, tobte der Vandalismus. Die brandneuen Spielanlagen wurden beschmiert, die guten Tartanbeläge der Sportplätze angebrannt oder herausgerissen. Die Zerstörungswut war unbegrenzt. Basketballkörbe wurden abgebrochen, ganze Spielgeräte umgetreten.

Die Anführer dieser Gruppen hatten kurz geschorene Haare und trugen schwarze, weinrote oder olivgrüne Bomberjacken, enge Jeans und schwarze Springerstiefel.

Ich war damals vielleicht 10 Jahre alt und sicherlich in meinem kindlichen Dasein noch sehr beeinflussbar, so wie meine damaligen Freunde. Und ich kann bis heute nicht genau sagen, wie wir uns derart gegen die in Schmellwitz an allen Ecken vorherrschenden Neonazi-Strömungen entwickeln konnten, denke aber, dass die Zerstörung unserer Spielanlagen uns in dieser Hinsicht einen guten Dienst erwies: Die Großen wurden das personifizierte Feindbild indem sie uns nahmen, woran wir Spaß hatten.

Es war gar nicht zu vermeiden, wir kamen unwillkürlich in Kontakt mit einer Welt, die beschämend und erschütternd zugleich war. Es fing an mit den Schmierereien auf Schaukeln und Kletteranlagen. Wir wurden konfrontiert mit Hakenkreuzen, „Hass“ mit seltsam geformtem Doppel-S und Aussagen wie „Ausländer raus“, was mir schon als Kind alles irgendwie nicht einleuchtete. Ich weiß tatsächlich nicht genau, wie es wirklich ablief, aber ich glaube, es waren primär die einige Jahre älteren Geschwister einiger Spielkameraden, die die Aufklärung über die Neonazis übernahmen. Auf jeden Fall wurde uns schnell klar, dass Nazis Scheiße sind. Im Endeffekt ist es auch egal, wie genau das lief, aber ich bin dankbar dafür. Mit schon etwa 10 Jahren waren wir politisch gepolt.

Es muss so 1997 oder 98 gewesen sein. Eines Nachmittags waren wir auf dem Weg nach Hause. Generell blieben wir meist im Freundeskreis des eigenen Klassenverbands. Parallelklassen interessierten uns kaum, man kannte sich, im Höchstfall taugten sie auf dem Fußballplatz als Gegner. Ich erinnere mich genau an die Gruppe von Schülern vor uns. Parallelklasse. Unter ihnen jemand, bei dem ich heute weiß, dass er geistig eingeschränkt war. Ich erinnere mich an ihn zwar als etwas seltsamen Jungen – anders konnte ich es als Kind halt nicht ausdrücken -, aber stets gut gelaunt und freundlich.

Ich erinnere mich auch genau an Die Großen. Am anderen Ende der Straße. Allen voran der Anführer, selbst erst 16 Jahre alt.

Und ich erinnere mich an die Schlägerei. Die sehr einseitige. Der arme Junge wurde zielgerichtet das Opfer eines Neonazi-Angriffs und wurde vor unseren hilflosen Augen krankenhausreif geschlagen – mit einem Baseballschläger. Ohne Grund, einfach aus dem Nichts. Der Junge blieb viele Wochen der Schule fern. Seinen Verletzungen wegen. Den physischen und psychischen. Der Anblick war die Hölle – und wird für den Rest meines Lebens in meinem Kopf bleiben.

Keiner der Angreifer wurde nachhaltig belangt. Der jüngere Bruder des Obernazis brachte am nächsten Tag demonstrativ ein Buch über die Waffen-SS mit in die Schule. Ein Außenseiter unserer Klasse.

Das Traurigste an der Sache war, dass wir niemals Unterstützung durch irgendwelche Erwachsenen erfahren hatten. Für die Eltern-Generation liefen da draußen halt ein paar ungehobelte Schlägertypen rum, denen mal halt aus dem Weg gehen sollte. Das Naziproblem wurde nicht als solches wahrgenommen, glaube ich. Es war an uns Kindern, uns selbst zu politisieren.

Die Plattenbausiedlung in Neu-Schmellwitz gibt es heute schon großteils nicht mehr. Doch die Nazis sind noch da. Die Nazis waren niemals weg. Die Nazis waren und die Nazis sind eine Bedrohung. Für alle, die anders sind als sie. Das hat damals schon ein 10-Jähriger verstanden. Es ist an der Zeit, dass die Politik das auch endlich versteht.

#nazisRaus #nieWiederIstJetzt #fckAfd #baseballschlägerjahre



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