Ich wurde letzten Donnerstag abend kurzfristig von einem Freund zu einem Vortrag eingeladen. Dr. Burkhart Veigel war zwischen 1961 und 1970 als Fluchthelfer für Flüchtende aus der DDR aktiv und hatte in einem 90-minütigen Vortrag darüber berichtet. Es ist immer spannend, Zeitzeugen erleben zu dürfen, ihre Emotionen zu sehen und Annekdoten zu hören, die man in keinem Geschichtsbuch finden wird.
Ich ziehe meinen Hut vor diesem Mann und seinen Mitstreitern. Es erforderte sicherlich sehr viel Mut und Selbstlosigkeit, sich mit den Grenzern der DDR und der Stasi selbst anzulegen und diese immer wieder aufs Neue überlisten zu müssen.
Unbenommen von der heroischen Leistung dieses Menschen und seiner Freunde, ihrem Mut und Einfallsreichtum, beschrieb sich der Mann recht häufig als sehr clever: Nur er hätte es geschafft, bestimmte „Touren“ (so nannte er seine Fluchtpläne) durchzuführen, ohne erwischt zu werden. Er betonte mehrfach, dass er stolz darauf wäre, der Stasi bis zum Schluss immer einen Schritt voraus gewesen zu sein und dass alle ihm bekannten anderen Fluchthelfergruppen früher oder später aufgeflogen wären – nur die eine von ihm geleitete nicht. Ich weiß nicht, wie dies wohl in Wirklichkeit aussieht, aber es gibt Veigels Aussage nach wohl in den Stasi-Archiven keinen Hinweis auf konkrete Spuren seiner Aktivitäten.
Er erwähnte mehrfach eine „Heinrich-Heine-Tour“. Eine Tour, von der er vom Veranstalter des Vortrags, dem Berliner Unterwelten e.V., wohl gebeten worden wäre, sie nicht zu erklären, weil sie wohl viel zu kompliziert zu verstehen wäre und selbst ein Historikjournalist dies erst beim dritten Anlauf verstanden hätte. Selbst CIA und der Verfassungsschutz wären damals wohl nicht von allein dahinter gekommen, wie diese Art von Fluchtplan funktionieren konnte und wie damit mehreren Dutzend bis über hundert Menschen zur Flucht aus der DDR verholfen werden konnte – selbst als es ihnen erklärt wurde. Und sogar als die Stasi und die Grenzer diese Pläne in die Hand bekamen, hätte die Tour noch eine Weile gut funktioniert, weil selbst diese sie angeblich nicht vollständig verstanden hätten.
Ich wurde neugierig und entschloss mich, sein Buch zu kaufen, in dem diese Tour beschrieben war. Die Kurzform:
- Man sucht einen Doppelgänger im Westen, der dem fluchtwilligen Menschen hinreichend ähnelt.
- Man besorgt sich einen zusätzlichen Pass, der auf die Beschreibung der beiden Personen (Flüchtender und sein Doppelgänger) zutrifft
- Man gibt dem Doppelgänger den „falschen“ Pass. Mit diesem Pass geht er durch die Grenzkontrolle. Im Grenzdurchgang Heinrich-Heine-Straße in Kreuzberg gab es wohl nur eine Baracke, vor der man parkte, dann vorn rein ging, sich drinnen auswies und dann hinten wieder raus ging. Dann ging man zurück zu seinem Auto und konnte weiter fahren.
- Nachdem die Passkontrolle also erfolgte, steckt der Doppelgänger einem mitgereisten, ebenfalls kontrollierten Freund den benutzten Pass unauffällig zu, der seinerseits diesen Pass in den Osten trägt. Der Doppelgänger zieht sich dann auf Toilette um.
- Draußen kann er seinen eigenen Pass aus seinem Auto nehmen bzw. von einer zweiten Gruppe von Fluchthelfern zugesteckt bekommen.
- Der umgezogene Doppelgänger geht jetzt mit seinem echten Pass noch einmal zum vorderen Eingang und ein weiteres Mal durch die Kontrolle. Das konnte funktionieren, weil es in der Baracke wohl so dunkel war, sodass die zu kontrollierenden Personen gar nicht genau zu erkennen waren und weil der Bereich vor und in der Toilette unbewacht war.
- Der falsche Pass wird dann in Ost-Berlin dem Flüchtenden übergeben. Gegebenenfalls muss noch das Foto ausgetauscht werden. Danach können alle unbehelligt mit den registrierten Pässen die Grenze zurück nach West-Berlin überschreiten.
Unachtet des riesigen Respekts vor dem unfassbaren Aufwand, dem unbeschreiblichen Mut und der notwendigen Kaltschnäuzigkeit aller beteiligten Helfer bei dem immensen Risiko der Unternehmung, erscheint mir der Plan, sofern bekannt, nicht sonderlich kompliziert: Ein Doppelgänger registriert sich mit einem falschen Pass, gibt diesen für den Flüchtenden weiter und geht dann mit seinem echten noch einmal durch die Kontrolle. Fertig.
Ob der Teil mit der CIA und der Stasi tatsächlich so lief wie beschrieben, oder ob sie vielleicht am Ende schlicht die Pläne gar nicht so bekommen hatten, kann ich nicht beurteilen. Auf jeden Fall war es gutes Marketing, denn natürlich kauften daraufhin so einige Leute sein Buch. Aber er hat es definitiv auch verdient. Meine Hochachtung vor diesem Mann und seinen Freunden!
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