In unregelmäßigen Abständen veranstalten Die Toten Hosen einen Wettbewerb: Man kann sich mit einem möglichst kreativen Beitrag und einer spannenden Location für ein „Wohnzimmerkonzert“ bewerben. Das ultimative Ziel eines jeden Fans. Diese Touren werden in Anlehnung an die Beatles „Magical Mystery Tour“ genannt.
Videos mit Liebesschwüren und Treuebekundungen aller erdenklicher Art und Weise und jeden beliebigen Aufwandes wurden schon produziert. Mir kam 2022 die Idee, das Medium zu wechseln und mit ein paar Bekannten ein Buch zu schreiben, das bandbezogene Erlebnisse festhalten sollte, Erlebnisse, die sie persönlich prägten. Ein Bandbuch von Fans für Fans sozusagen. Da trotz zahlreicher Zusagen nie jemand mitschrieb, veröffentliche ich nun hier meine Texte.
Dieses namenlose, bärtige Gesicht starrte mich an. Monatelang, immer wenn ich durch die elterliche Wohnung ging und mein Kinderzimmer betrat. Oder wenn ich die Haustür öffnete. Es war da und es starrte mich an. Dieses eine Gesicht sollte auf ewig meine erste greifbare, konkrete Erinnerung an Die Toten Hosen sein.
In meiner Grundschulklasse ging es schon früh um Musik. Die Lager waren klar verteilt. Die Mädchen schmachteten natürlich die neuesten Boy Groups an. In meiner Erinnerung lag damals Caught in the Act noch vor N’Sync und den Backstreet Boys, doch die Frage des Rankings konnte durchaus schon einmal in – aus maskuliner Sicht – sehr lustigen Keifereien enden. Bei den Jungs war das einfacher: sie hörten Die Prinzen. Punkt. Ich kann noch heute jeden Song aller Alben von Küssen verboten bis Schwein sein mitsingen, obwohl ich die Alben vermutlich schon mehr als ein Jahrzehnt nicht mehr in einer Playlist hatte.
Ich muss etwa neun Jahre alt gewesen sein, als mein Musikgeschmack sich etwas erweiterte – nichts was den Prinzen wirklich gefährlich werden konnte, doch mir gefiel durchaus die Musik, die hin und wieder im Radio, dem Berlin-Brandenburger Jugendsender Radio Fritz, der damals nahezu ausnahmslos bei uns zu Hause lief, gespielt wurde. So entstanden die ersten Mixtapes eines Menschen des wohl letztmöglichen Jahrgangs, der noch weiß, was Mixtapes sind. Daher waren die Die Toten Hosen durchaus ein Begriff, aber sie gingen genauso im Rauschen der modernen Musik der Mittneunziger unter, wie Blümchen oder Michael Jackson. Ein Track von vielen. Eine Band unter anderen.
Meine Eltern waren noch relativ jung, uns trennen nur 20 Jahre. Meine Mutter und mein Vater sind schon immer musikbegeistert gewesen und gerade in dieser Zeit nutzten sie hin und wieder die Gelegenheit, aus der Provinz und dem Alltag zu entfliehen und in Berlin, Dresden oder Leipzig Livemusik zu hören, wenn es Babysitter und andere Umstände erlaubten. Meine Mutter ging damals durchaus auch auf Konzerte von Musikern und Bands, die sie im Grunde nicht kannte. Manchmal reichte nur ein Song, der nur oft genug im Radio gespielt werden musste, um sie nach einem günstigen Konzerttermin Ausschau halten zu lassen. Eine „Eventgängerin“, wie man heute in einem eher abfälligeren Ton sagen würde. Aber genau diese eine Eventgängerin und dieses eine Event sollte den Großteil meines Musikgeschmackes maßgeblich prägen.
Neben einigen anderen Songs der Kauf MICH! und der aktuellen Opium fürs Volk lief auch Alles aus Liebe regelmäßig auf Fritz. Und genau dies war das Lied, das es meiner Mutter so sehr angetan hatte, dass sie unbedingt einmal ein Hosen-Konzert besuchen musste. Ich weiß nicht, wie früh man damals Tickets haben musste, aber im Zeitgefühl eines Kindes hing das Ticket eine Ewigkeit dort an der Pinnwand zwischen Haustür und Kinderzimmer. Und so zog dieses eine bärtige Gesicht bei uns ein.
Nirgends passt es besser, deshalb kann es hier klar gesagt werden: Nichts bleibt für die Ewigkeit. Denn eines Tages, es war der Oktober 1996, verschwand das Gesicht so schnell wie es einst gekommen war. Aber der Ursprungszustand war damit nicht wieder hergestellt. Im brandneuen CD-Spieler des Autoradios eines VW Passat erklang auf einmal nicht mehr nur die seichte Musik von Keimzeit oder Rod Stewart. Ein gänzlich anderer Sound mischte sich nun darunter, ja verdrängte für eine bestimmte Zeit sogar das Altbewährte. Mir gefiel es.
Ich kann nicht sagen, wie oft die Im Auftrag des Herrn bei uns gespielt wurde, doch schon aufgrund der Tatsache, dass sich der CD-Wechsler praktischer Weise im Kofferraum befand, der damit während einer Fahrt schlecht neu zu bestücken war, und aufgrund der Tatsache, dass er nicht mehr als sechs CDs fasste, war die Wahrscheinlichkeit recht hoch, dass es dieses, direkt in der euphorischen Stimmung, die sich nach einem besonders guten Konzert einstellt, gekaufte Live-Album traf, doch recht hoch. Der kreischende Sound wurde immer und immer wieder in meinen Kopf geprügelt. Immer tiefer drangen die Melodien und Texte in mein noch so argloses, kindliches Hirn. Letztlich konnte ich jede Ansage und jede Textunsicherheit problemlos mitsingen und mitsprechen, ja sogar auswendig aufsagen. Mein Vater hatte mir irgendwann mit seiner sauteuren Stereoanlage die CD auf eine 90min-Kassette überspielt, da in meinem Kinderzimmer noch kein CD-Player vorhanden war. Ich weiß es noch genau: Die Kassette musste zwischen Hier kommt Alex und Sheena Is A Punkrocker gedreht werden. Eine neue Kassette in der Hörspielsammlung. Und der Held meines neuen Hörspiels hieß Campino.
Das Ticket wanderte, wie damals eigentlich alles, in das Familienfotoalbum. Aufgeklebt auf eine weiße DIN A4-Seite und akkurat beschriftet starrt der bärtige Karl Marx nun in die Dunkelheit eines im Schrank verstauten Albums. Doch ich bin sicher, er kann sich an mich genauso gut erinnern, wie ich mich an ihn.
Never mind Die Prinzen – Here’s Die Toten Hosen!
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