In unregelmäßigen Abständen veranstalten Die Toten Hosen einen Wettbewerb: Man kann sich mit einem möglichst kreativen Beitrag und einer spannenden Location für ein „Wohnzimmerkonzert“ bewerben. Das ultimative Ziel eines jeden Fans. Diese Touren werden in Anlehnung an die Beatles „Magical Mystery Tour“ genannt.
Videos mit Liebesschwüren und Treuebekundungen aller erdenklicher Art und Weise und jeden beliebigen Aufwandes wurden schon produziert. Mir kam 2022 die Idee, das Medium zu wechseln und mit ein paar Bekannten ein Buch zu schreiben, das bandbezogene Erlebnisse festhalten sollte, Erlebnisse, die sie persönlich prägten. Ein Bandbuch von Fans für Fans sozusagen. Da trotz zahlreicher Zusagen nie jemand mitschrieb, veröffentliche ich nun hier meine Texte.
Am Vormittag des Montags am 10. Juni 2019 schrieb ich folgende E-Mail an das Management von JKP:
Hallo liebes Team, hallo liebe Band, hallo Campino!
Ich habe keine Ahnung, ob diese mir sehr am Herzen liegende Nachricht den richtigen Adressaten erreicht.
Beim Konzert in Warschau wurde Gegenwind der Zeit gespielt. Dabei kam es wohl zu einem bedauerlichen Missverständnis.
Am Folgetag wurde in der Whatsapp-Gruppe der Fans diskutiert, warum Campino an einer Stelle sauer gewesen wäre und ausgespuckt habe. Ein Hinweis war, dass bei Gegenwind der Zeit einer oder mehrere Leute im Publikum den Mittelfinger gehoben hatten.
Damit fühlte ich mich angesprochen: In der Tat war ich (meiner Wahrnehmung nach) der erste von Zweien, die den Song lang beide Mittelfinger in die Höhe streckten. Irgendwie zitierte Campino daraufhin uns beide an die Bühne. Ich kann nicht für den zweiten reden, da ich ihn nicht kannte, aber die Situation stellte sich für mich wie folgt dar:
Der Song ist mir wichtig. Für mich war der gestreckte Mittelfinger Ausdruck der Bestätigung. Das Zeichen ging natürlich ins keinster Weise gegen den Song oder die Band, sondern gegen die besungenen Nazi-Arschlöcher und ihre Sympatisanten. Ich hatte keine Vorstellung, dass meine Symbolik evtl. falsch aufzufassen sei. Auch als Campino uns zu sich holte, habe ich das nicht negativ verstanden – aus meiner Sicht hatte ich mir in dem Moment auch nichts vorzuwerfen. Angeblich hatte Campino (nach Meinung einiger direkt ins Publikum) ausgespuckt. Das kann ich nicht bestätigen, davon hatte ich nichts von mitbekommen.
Ich möchte also an dieser Stelle klarstellen, dass, wenn mein Mittelfinger tatsächlich zu Unmut geführt haben sollte, hier offensichtlich eine Fehlinterpretation vorlag. Ich möchte in aller Form bei der Band um Entschuldigung bitten, wie ich auch pro forma bei den Fans um Entschuldigung gebeten habe, falls ich ungewollt eine Quelle von Ärger gewesen sein sollte. Allerdings möchte ich betonen, dass ich komplett hinter dem Song stehe, ihn wichtig finde und so nur meinen Hass auf Nazis untermalt habe.
Ein klärendes Gespräch wird wohl leider nicht stattfinden können. Allerdings würde ich mich sehr freuen, wenn die Band Kenntnis von meinem Statement und meinem aufrichtigen Entschuldigung nehmen würde. Mehr kann ich leider an dieser Stelle nicht tun.
Danke für das Lesen,
Gruß, Mark L.
Ich fühlte mich furchtbar. Offensichtlich hatte meine falsch verstandene Emotion eine Kette von negativen Ereignissen ausgelöst. Ein vermeintlicher Nazi in den Reihen der Fans, ausgerechnet bei einem Auswärtsspiel in Polen. Viel schlimmer hätte das Szenario kaum ausgemalt werden können.
Am Freitag vorher bestieg ich den FlixBus, den viele Mitgereiste gebucht hatten, um von Warschau nach Krakau zu fahren. Der Bus ging eindeutig zu früh. Die Nacht war kurz, der Kater noch sehr präsent. Ich setzte mich auf meinen Platz – allein, ohne Nachbar. Und das war gut so. Ruhe. Bitte nichts als Ruhe für die nächsten Stunden.
Der Blick ging in die Whatsapp-Gruppe.
Schlagartig war ich wach. Es wurde wild diskutiert von dem einen Nazi gestern im Publikum. Wie Campino den wohl vor die Bühne zitierte und ordentlich anrotzte. Recht so. Die Zustimmungen für den Sänger und die Schmähungen für das Arschloch nahmen kein Ende.
Ich überflog die Nachrichten und kaum eine Minute später war klar: Sie redeten über mich! Ich war erschüttert! Ich, ein Nazi? Ich, der schon als Prä-Teenager auf Neonazis draufgegangen ist? Meine Lieblingsband hielt mich für einen Nazi? Was mag es wohl Schlimmeres geben? Sofort war klar, dass hier eine Richtigstellung notwendig war. Ich stehe stets zu meinen Taten und, wenn notwendig, auch zu meinen Fehlern und so outete ich mich unverzüglich.
Eine Richtigstellung später flaute die Diskussion unverzüglich ab. Scheinbar alles doch nicht so tragisch. Scheinbar alles doch nicht so wichtig. Nur für mich war in dem Moment nichts wichtiger. Ich hatte der Band den Abend versaut. Vielleicht sogar tragischer: Vielleicht hatte ich sogar dem polnischen Publikum das Gefühl gegeben, es hier nicht mit Freunden zu tun zu haben, sondern mit den denkbar schlechtesten Gästen, die man sich einladen konnte. Doch wie konnte eine derart zustimmend gemeinte Geste derart ins Gegenteil eskalieren? Noch heute kann man auf einem Publikumsmitschnitt des Abends am Ende des Songs Campino in Richtung Andi und Kuddel – und klar nicht für das Publikum gedacht – sagen hören:
“OK, wir sind hier nur zu Besuch, nur zu Besuch!”
Ich erinnere mich sogar an die zugehörige Gestik und vor allem auch an den Blick Campinos in Richtung der Band. Im Nachhinein wurde mir klar, es war beschwichtigend gemeint und sollte eine Eskalation vermeiden. Andi oder Kuddel wollten gerade ins Publikum springen, das Arschloch zur Rede stellen, das sich dort unten breit machte. Nur hatte ich diese Geste damals absolut nicht auf mich selbst oder irgendjemanden anderen im Publikum bezogen. Vielleicht war irgendein Monitor falsch gestimmt oder ein Scheinwerfer zu grell, aber auf keinen Fall Probleme mit jemandem vor der Bühne.
Für die Fans im WhatsApp-Chat schien das Thema abgehakt. Am Samstagabend in Krakau bekam ich noch die eine oder andere Spitze zu hören: “Lass diesmal einfach alle Mittelfinger unten, ok?”, doch für mich war das Ganze keine Entspannung. Mir war es ein unbedingtes Bedürfnis, dieses Missverständnis vor allem mit der Band selbst zu klären, nur leider hat man nicht alle Tage die Chance, direkt mit Die Toten Hosen reden zu können.
Direkt nach dem Wochenende schrieb ich diese E-Mail. Es war die einzige, wenn auch sehr winzige Chance, die Band direkt zu erreichen. Nur einen Tag später erhielt ich die kurze, knappe Antwort von JKP:
Lieber Mark,
vielen Dank für deine nette Mail. Gerne leiten wir deine Mail an die Band weiter.
Ganz herzliche Grüße
Dein JKP Team
Mehr konnte ich nicht erwarten. Ich weiß auch nicht, ob diese Mail wirklich jemals weitergeleitet wurde, ob jemals ein Betroffener von meiner aufrichtigen Suche nach Vergebung Notiz genommen hatte. Aber mehr war in dem Moment einfach nicht drin.
Es vergingen die Jahre, Corona kam und blieb. Ich gehe davon aus, dass absolut jeder der Band diesen Abend vergessen hatte, so unangenehm er auch war. Am Ende war es ein Konzert unter vielen.
Es war der 31. März 2022. Im Babylon-Kino in Berlin sollte die Premiere der Dokumentation Auswärtsspiel unter Anwesenheit der Band stattfinden. Und ich war dabei (Das ist aber eine andere Geschichte). Ich ging mit einer gewissen Erwartung hin, vielleicht doch mit Andi oder Kuddel reden zu können, nur einen Moment. Nun, es zeigte sich, Kuddel war gar nicht anwesend und Andi und Campino waren permanent von Fans und Reportern umgeben. Mein Anliegen benötigte jedoch mehr als ein paar Sekunden Aufmerksamkeit. Die beiden kamen für ein Gespräch demnach leider nicht in Frage.
Doch nach der Veranstaltung fiel mir Breiti auf, der ziemlich einsam am Rand stand und scheinbar auf das Ende der Interviews mit Campino und Filmcrew wartete. Zwar kann ich mich nicht erinnern, dass Breiti damals in Warschau direkt mit beteiligt war, aber eine bessere Chance würde ich wohl niemals bekommen und so fasste ich mir sehr viel Mut und sprach ihn an. Und während ich stotternd mein Anliegen vorbrachte, hörte mir Breiti tatsächlich zu – teils professionell, teils amüsiert. Am Ende angelangt, antwortete er mir mit verschmitzten Lächeln:
“Ach, DU warst das.”
– “Du kannst dich daran erinnern?”
“Nein, eigentlich nicht.”, ergänzte er fast lachend, was an und für sich eine unfassbare Reaktion für den sonst stets Ernst drein schauenden Breiti darstellte.
Ich war ein wenig enttäuscht, hatte aber eigentlich nichts anderes erwartet. Dennoch machte ich ihm noch einmal klar, wie wichtig es mir war, dies der Band direkt zu sagen. Er bestätigte mir dann auf professionelle Art, dass dies für sie ja damit erledigt wäre, ich bedankte mich artig und wir gingen unserer Wege.
Natürlich ist mir klar, dass dieses Gespräch wohl kaum dazu geführt haben wird, dass das Thema noch einmal in der Band erörtert wurde, aber mir ist zumindest damit ein kleiner Teil des Schandflecks entfernt worden.
Update heute:
Wie es der Zufall so will, fand ich beim Erstellen dieses Beitrags ein Youtube-Video genau dieses Auftritts. Davon abgesehen, dass die Aussage, dass „wir“ nur zu Besuch wären, tatsächlich nicht an die Band ging, sondern an das Publikum, ist hier ab ca. 3 min die Geschichte gut nachvollziehbar. Die Wut Campinos ist so greifbar zu erkennen, dass augenblicklich wieder Scham in mir aufsteigt. Es tut mir so unendlich Leid.
Jetzt gehen die Mauern hoch um unser Vaterland
Und ihr beschützt jetzt unser Reich
Hier kommt keiner rein, alles wird abgefangen
Denn alle Schwarzköpfe sind gleich
Unsre Bürgerwehr wird ’ne Spezialeinheit
All die Heime abgebrannt
Sauerkraut und Bier ab jetzt im Grundgesetz
Vom Griechen bis zum DönerstandUnd so steht ihr da in euerm kurzen Hemd
Im Gegenwind der Zeit
Haltet euch nur stumpf an gestern fest
Im Gegenwind der ZeitUnd jetzt begrüßt ihr euch nur noch mit Hitlergruß
Zwei gekreuzte Baseballschläger als Symbol
An jeder Kneipentür, vor jedem Supermarkt
Steht ein kleiner breiter Patriot
All die Regenbogenfahnen werden abmontiert
Und durch schwarz-weiß-rot ersetzt
Rechts vor links, selbst beim Geschlechtsverkehr
Legt Blumen ab für Rudolf Heß!Und so steht ihr da in euerm kurzen Hemd
Im Gegenwind der Zeit
Haltet euch nur stumpf an gestern fest
Im Gegenwind der ZeitUnd im Radio läuft nur noch Marschmusik
Fresst euer Blei und trinkt Benzin!
Wenn die Vergangenheit nicht aus den Köpfen geht
Braucht man jede Menge AsperinUnd so steht ihr da in euerm kurzen Hemd
Die Toten Hosen – Gegenwind der Zeit
Im Gegenwind der Zeit
Haltet euch nur stumpf an gestern fest
Im Gegenwind der Zeit
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