Beim Geocaching gibt es eine Challenge: „Logge einen Geocache in allen 16 Bundesländern an einem Tag„. Diese wird in der Regel mit dem Auto erledigt. Daniel und mir war das zu unökologisch. Nach anfänglichen Überlegungen, das vielleicht mit einem E-Auto zu machen, entschieden wir Eisenbahn-Nerds uns: Wenn, dann müsste man das eigentlich mal mit der Bahn versuchen…
Die Vorbereitung
War dieser tollkühne Plan überhaupt theoretisch schaffbar? Konnte man mit der Bahn alle Bundesländer an einem Tag erreichen?
Ein grober Blick in die Fahrpläne zeigte: Ja – wenn alles gut läuft. Es ging dabei nicht nur darum, Zugverbindungen zu finden, die einen von Bundesland A ins Bundesland B bringen würden; vielmehr besteht die Herausforderung darin, exakt so viel Zeit für die Fahrtwechsel einzuplanen, um den Zug zu verlassen, aus dem Bahnhof raus zu rennen, einen Cache zu finden, ihn zu loggen, ihn zurück zu legen und rechtzeitig am nächsten Bahnsteig zu sein.
Ich weiß nicht, wie lange es dauerte, aber irgendwann hatte ich einen Fahrplan gebastelt, der diesen Anforderungen genügen konnte. Es war klar, dass das Saarland dabei eine entscheidene Rolle spielen würde, denn es liegt so weit abseits, dass es in jedem Fall viel Zeit kosten würde. Deshalb konnte man nicht beides machen – hinein- und hinausfahren. Es würde demnach als Start- oder Endpunkt der Tour dienen müssen. Ebenso interessant ist das Ruhrgebiet: Der geübte Bahnfahrer weiß, dass man, will man pünktlich sein, dieses am Besten weiträumig umfahren musste. Denn es handelt sich um ein hoch frequentiertes Gebiet mit verhältnismäßig wenig Strecken. Eine kleine Verzögerung führt dort regelmäßig zu einer Lawine von Verzögerungen zahlloser Züge. Die grobe Route ergab sich so von selbst. Es galt nun auf dieser Route die besten Bahnhalte zu finden, und insbesondere zu schauen, ob diese günstig gelegene Geocaches böten. Dafür war es natürlich auch notwendig, entsprechende lokale Rätselcaches („Mysteries“ im Geocachersprech) zu lösen, mit dem Ziel, zu prüfen, ob das entsprechende Finale vielleicht ebenfalls günstig liegen würde.
Die letztlich daraus entstandene Tour sollte dann in Homburg (Saar) losgehen, weiter über Kaiserslautern, Mannheim, Frankfurt, Würzburg, Erfurt, Halle und Leipzig nach Berlin. Würden wir dann noch genug Kraft haben, könnte die Reise via Wittenberge, Ludwigslust, Büchen, Hamburg, Bremen, Osnabrück in Münster beendet werden. Kein Ruhrpott.
Die Tour stand also fest und in den letzten Monaten hatten wir beide während diverser (Dienst-)Reisen schon die meisten dieser Bahnhöfe hinsichtlich ihrer Laufwege und Umgebungen inspizieren können. Auch wurden dort jeweils zwei Caches geprüft und sogar einige Mehrstation-Caches („Multis“) durchgespielt, damit man sie im Fall des Falles auch schnell finden und keine Zeit verlieren würde.
Es wurde spannend.
Die Tour
Wir sind beide am Mittwochabend, den 08. Mai, dem Vortag von Himmelfahrt, in Homburg angereist. Wir verbrachten den Donnerstag so ruhig, wie irgend möglich. Lange geschlafen, ein wenig spazieren, dann vietnamesisch essen und zum Abschluss um 17h ins Bett, um noch 6 Stunden dösen zu können.
Donnerstag, ca. 23.00h: Es wurde nun Realität. Daniel fuhr mit unserem, von einer guten Freundin zur Verfügung gestellten Klapprad zum ersten Startpunkt. Ich erwartete ihn auf dem Bahnsteig. Ich war noch immer der festen Überzeugung, dass wir das alles unmöglich schaffen würden. Die Bahn ist leider einfach zu unberechenbar.
Freitag, 10. Mai 2024, 00:00h, Homburg (Saarland): Showdown! Mit einer Telefonstandleitung feierten wir gemeinsam den Beginn. Daniel versah das erste Logbuch des Tages mit unserem eigens angefertigten Stempel: „10.05.24 – Bahn24“. Datum und der möglichst kurze Teamname für einen möglichst kleinen Stempel, sogar klein genug für ein Nano-Logbuch. 4 Minuten später stand er auf dem Bahnsteig. Wir bestiegen den ersten Zug, die S3 nach Kaiserslautern, der bereits bereit stand und 00:14h das Saarland verlassen sollte.
00:44h, Kaiserslautern (Rheinland-Pfalz): Die S-Bahn war pünktlich. Und das war auch gut so. Denn hier hatten wir es mit unserer ersten wirklichen Herausforderung zu tun. Es herrschte nun Bahnbetriebspause. Bis etwa 04:00h würde hier und beinahe überall anders sonst kein Zug mehr fahren. Dennoch wollten wir die Zeit nicht ungenutzt verstreichen lassen. So entschieden wir uns tatsächlich, schon hier von unserem Plan abzuweichen – und die Schienen zu verlassen. Wir sprinteten also zum Taxistand. Daniel instruierte den Fahrer und lud das Gepäck ein, während ich die nahegelegene Dose abstempelte. Denn der Plan war nicht so trivial. Tatsächlich konnte mit viel Glück sogar noch ein Zug in Mannheim erwischt werden. Der wirklich letzte dort, und er würde uns direkt nach Frankfurt bringen. Um 01:52h.
01:27h, Mannheim (Baden-Württemberg): Der Fahrer hatte verstanden. Ich bin nicht sicher, ob ich das letztlich gutheißen kann oder nicht, aber der Opel – das war dem Fahrer wichtig zu erwähnen – heizte mit über 190 Sachen über die Autobahn und schaffte es tatsächlich, bereits um 01:27h am Bahnhof zu sein. Der Taxifahrer setzte mich eine Querstraße vorher raus, ich konnte dort entspannt loggen, traf Daniel noch direkt am Taxistand wieder an und wir bekamen sogar einen noch früheren Zug.
02:40h, Frankfurt (Hessen): Ich hatte nie ernsthaft erwartet, so früh tatsächlich in Frankfurt zu stehen. Deshalb hatte ich im Vorfeld auch keinerlei Planungen für diese Uhrzeit angestellt. Meine Annahme war, dass man, würde man an diesem Knotenpunkt stehen, bestimmt schon irgendwie günstig weg kommen könnte, zumindest früher als der eigentlich geplante ICE um 04:53h Richtung Würzburg, den wir eigentlich auf der Liste hatten, wären wir in Mannheim gestrandet. Ich sollte mich täuschen: Der ganze Aufwand war umsonst. Niemals hätte ich das erwartet, aber tatsächlich fährt in Frankfurt vor jener Uhrzeit absolut nichts anderes nach Bayern. Wir mussten also doch auf genau diesen Zug warten, der heraus geholte Vorsprung war damit leider bedeutungslos. Mehr noch: Tatsächlich hatte der Zug, aus Köln kommend, schon eine solche Verspätung, dass in Würzburg unser Anschluss nach Erfurt ernsthaft in Gefahr geriet. Als wir dann 05:15h endlich losfuhren, disponierten wir um. Wir stiegen nicht in Würzburg, sondern erst später in Nürnberg aus. Dort hatten wir genügend Puffer auf einen ICE nach Erfurt, auch wenn dieser dann erst 45min nach unserer ursprünglichen Planung dort einlief.
07:10h, Nürnberg (Bayern): Es war schon seltsam. Für die ersten 4 Bundesländer Saarland, Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg und Hessen benötigten wir weniger als drei Stunden. Um unseren Fund im sehr nahe gelegenen Bayern vollziehen zu können, benötigte es allein weitere viereinhalb Stunden. Wir hofften, dass sich das nicht extrapolierte. Nun jedenfalls galt es zu schauen, wie wir ab Erfurt weiter machen würden. Wir würden dort 45 Minuten hinter unserem Zeitplan zurück liegen. Hinter Erfurt hatten wir mehrere Optionen. Ein möglicher, bereits im Vorfeld zurecht gelegter Desaster-Plan von uns sah vor, Halle im Zweifelsfall gänzlich auszulassen und von Erfurt nach Leipzig und von dort direkt weiter nach Berlin zu fahren. Den Log in Sachsen-Anhalt würden wir dann hoffentlich während unseres planmäßig einstündigen Aufenthaltes später in Wittenberge (Brandenburg) nachholen können, indem wir mit dem Klapprad die dortige Elbebrücke überquerten, die beide Bundesländer verband – eine durchaus heikle Angelegenheit.
Der Cache in Nürnberg wurde von Daniel mit dem Rad schnell und problemlos erledigt, während ich mir zwischenzeitlich einfach eine kleine Verschnaufpause und das saubere Klo einer DB Lounge gönnen durfte.
09:12h, Erfurt (Thüringen): Der ICE hatte uns mit 300km/h durch den Thüringer Wald gejagt und kam einigermaßen pünktlich in Erfurt an. Der Log dort war in wenigen Sekunden erledigt, sodass wir in Ruhe über die aktuelle Situation nachdenken konnten. Es zeigte sich, dass es tatsächlich doch noch eine Möglichkeit gab, Halle in die Route einzubauen – vorausgesetzt wir würden in Leipzig extrem schnell sein mit unserem Fund. Wir würden nur 13 Minuten Zeit haben für den Umstieg.
10:08h, Leipzig (Sachsen): Wir hatten mächtigen Zeitdruck. Hier galt es also, strategisch zu denken: Leipzig ist ein Kopfbahnhof. Es ergab also Sinn, uns im allerersten Wagen in Stellung zu bringen, um schnellstmöglich vom Bahnsteig weg zu kommen. Daniel nahm das Fahrrad und sollte sich direkt zum S-Bahn-Gleis begeben. Ich machte mich bereit für einen Sprint. Der Cache selbst war nicht weit weg, aber es musste die große Hauptstraße vor dem Bahnhof überquert werden, eine Straße, die man eigentlich niemals in einem Zug überqueren konnte, schon allein wegen des extrem hohen Tramaufkommens. Das Glück war uns hold, wir waren sogar 2 Minuten zu früh vor Ort. Ich rannte los, wie ein Irrer. Und doch wurde ich von besagter Straße gestoppt. Zweimal von den Autofahrbahnen, drei Mal von einer Straßenbahn und einmal von einem Bus. Es war zum bekloppt werden. Der Log ging dann aber fix. Glücklicherweise hatte das unterirdische S-Bahn-Gleis einen zusätzlichen Zugang von dieser Straßenseite aus und so erreichte ich komplett atemlos nach nur 5 Minuten den bereits wartenden Daniel am Bahnsteig.
10:48h, Halle (Sachsen-Anhalt): Das Hauptproblem, das wir hatten, war ein Nadelöhr im Zeitplan, denn bekämen wir um 13:06h nicht den Eurocity von Berlin nach Wittenberge, würde unser gesamter Restfahrplan in sich zusammenbrechen und die Tour gegebenenfalls sogar komplett scheitern. Deswegen hatten wir eigentlich vorhin Halle von der Liste gestrichen. Doch dank des aufgebrachten Mutes, die kurze Umstiegszeit in Leipzig zu wagen, und der pünktlichen S-Bahn, konnten wir aufatmen: Wir könnten Sachsen-Anhalt erledigen und trotzdem wieder zurück zum ursprünglichen Zeitplan gelangen. Halle selbst erwies sich dann jedoch als problematischer als erwartet. Wir hatten zwei Dosen herausgesucht und entschieden uns, beide anzugehen – jeder eine. Der erste von uns, der via Telefonstandleitung Erfolg vermeldete, loggte und der andere konnte dann direkt umdrehen. Diese Strategie rettete uns dann tatsächlich, denn ich stand plötzlich im Bahnhof vor einem verschlossenen Ausgang. Daniel hingegen war derweil auf dem Klapprad schon bei unserer Alternative angekommen, sodass ich aufatmen und mich zum nächsten Gleis begeben konnte.
12:23h, Berlin: Wir waren wirklich wieder im Plan. Trotz der rund 20-minütigen Verspätung heute Nacht. Unfassbar. Der Log in Berlin war ein sehr gemütlicher, denn hier handelte es sich lediglich um einen Virtual, einen Geocache ohne eigentliches Logbuch, für den man in der Regel nur eine kleine Aufgabe erfüllen musste. Bei diesem war es das Knipsen eines Zettels in einem Fahrscheinautomaten zum Beweis, dass man wirklich an jenem Tag vor Ort gewesen war. Und da diese Automaten auf jedem Bahnsteig vorhanden sind und unser Folgezug zufällig vom gleichen Gleis abfuhr, an dem wir eben ankamen, brauchten wir diesmal nicht einmal den Bahnsteig zu verlassen. Vielmehr konnte ich dann den einfahrenden Eurocity genießen, der von einer zauberhaften blauen ČD-Vectron gezogen wurde, der 193 292, Kosename „Ronka“. Es freut mich wirklich sehr, meine Lieblingslok als Teil dieser Tour dabei zu haben! Ein wenig komisch war das Gefühl dann jedoch, nach zwei Tagen und übermüdet wieder zu Hause zu sein und doch zu wissen, dass es nicht ins eigene Bett, sondern wieder weit weg ging.
14:00h, Wittenberge (Brandenburg): Jetzt begann eine Phase im Zeitplan, die mir schon während unserer Planungen viel Kopfzerbrechen bereitet hatte. Zwischen Berlin und Hamburg galt es, die drei Bundesländer Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Hostein abzuhaken. Leider befindet sich in diesen Ländern auf der einzig sinnvollen Strecke weit und breit keine Stadt, die in enger Taktung angefahren wird. Die einzigen Orte, die für einen Ausstieg in Frage kamen, weil dort zumindest stündlich etwas für uns Sinnvolles hielt, waren die Weltmetropolen Wittenberge, Ludwigslust und Büchen. Alle sind eigentlich nur wenige Minuten voneinander entfernt und doch hatten wir dazwischen immer exakt eine ganze Stunde Aufenthalt. Das war viel Zeit, die wir verloren, aber diese bittere Pille mussten wir schlucken – ich hatte keine bessere Alternative gefunden. Wittenberge selbst kam eine besondere Rolle in unserer Tour zu.
Wie bereits erwähnt, hätten wir im Falle einer großen Verspätung früher am Tag Sachsen-Anhalt überspringen und dies dank des langen Aufenthaltes hier mit einer Radtour über die Elbe nachholen könnten. Dafür müsste man eine Eisenbahnbrücke überqueren, die einen kleinen Steg für Radfahrer und Fußgänger bereitstellte. Doch tatsächlich war das für mich nie eine wirklich gute Option. Ich hatte diese – landschaftlich absolut sehenswerte – Tour einige Wochen zuvor testweise schon einmal zu Fuß absolviert. Die Holzbohlen jenes Stegs sind großteils wackelig oder fehlen zum Teil sogar ganz. Noch schlimmer war der Wind, der dort oben über die offene Landschaft aus Fluss und Auen blies. Ich selbst konnte damals nur in kleinen Tippelschritten und in absoluter Schräglage hinüber gelangen. Wenn man sich ausmalte, wie es dann sein würde, dort mit einem kleinen Klapprad unterwegs sein zu müssen, wird klar, dass man das lieber vermeiden möchte.
Weiterhin hatten wir für den Fall, dass wir den Eurocity aus Berlin nicht erwischt hätten, eine gute Freundin dafür gewinnen können, uns in Wittenberge mit einem Auto zu empfangen. Wir hätten dann zwar klar den Ansatz, die Tour mit der Bahn zurück legen zu können, als gescheitert erklären müssen, dennoch wäre es ja schade um den bisherigen Fortschritt in Sachen 16 Bundesländer an einem Tag gewesen, hier komplett abzubrechen. Dieser Notfallplan sah also vor, dass man die mehrstündigen Bahnpausen in dieser Gegend zu unserem Vorteil drehen würde und sie uns ohne derartige Verzögerungen zu einem Zug bringen würde, der wieder einigermaßen im Plan war – notfalls direkt in Hamburg.
15:28h, Ludwigslust (Mecklenburg-Vorpommern): Wir brauchten in Wittenberg glücklicher Weise keine der beiden Notfallvarianten zu ziehen, was uns extrem freute. Von heute Nacht abgesehen, waren alle bisherigen Züge bisher pünktlich unterwegs und wir waren bestens im Zeitplan.
16:49h, Büchen (Schleswig-Holstein): Der Bahnhof, für den sie nur drei verschiedene Ziffern für die Gleisbezeichnungen übrig hatten – die Gleise heißen 1, 4, 40, 41 und 140. Unsere Abfahrt nach Hamburg war dort eigentlich für 17:37h vorgesehen, doch dank des Klapprades und unserer präzisen Vorbereitung, konnten wir den Log schneller als geplant erledigen und eine halbe Stunde im Zeitplan gewinnen. Wir fuhren so bereits 17:07h ab.
17:40h, Hamburg: Wir waren nun sogar vor unserem Zeitplan. Da aber die letzten drei Bundesländer Bremen, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen von hier aus sehr häufig angefahren wurden, konnten wir jetzt dank der sehr frühen Uhrzeit auf Improvisation setzen. Einfach loggen und schauen, was als nächstes fahren würde. Wir hatten keinen Zeitdruck mehr, uns blieben noch über sechs Stunden für die Reststrecke. Wir wussten nun erstmals: Wir würden es sicher schaffen!
Der Hamburger Hauptbahnhof an sich ist immer voll und eng. Mit viel Gepäck, gerade mit dem selbst im zusammengefalteten Zustand noch recht sperrigen Klapprad, würde man hier nicht wirklich schnell agieren können. Da außerdem der anvisierte Cache nur wenige Meter vom Ausgang entfernt liegen sollte, instruierte ich Daniel, erst einmal zu warten und gegebenenfalls schon einmal die nächste Verbindung nach Bremen herauszusuchen. So versuchte ich, mir, so schnell es irgendwie ging, einen Weg durch die Massen zu bahnen. Am Ziel angelangt fand ich allerdings außer ein paar argwöhnisch schauenden Obdachlosen nichts. Ich wusste sicher, wo ich zu suchen hatte, doch hier lag nichts – ein klassischer DNF, wie wir Geocacher sagen („Did not find“). Ich rief unmittelbar Daniel an, er solle sich auf den Weg zur Alternative machen, die allerdings deutlich weiter entfernt und auf der Gegenseite des Bahnhofs lag. Aufgrund der größeren Entfernung brauchte es hier den Einsatz des Fahrrades. Daniel vermeldete dann glücklicher Weise einige Minuten später Erfolg. Es hatte sich abermals ausgezahlt, dass wir von vornherein Alternativen eingeplant hatten.
19:24h, Bremen: Der Zug war übervoll. Schon das Einsteigen auf den engen Hamburger Bahnsteigen war ein Erlebnis für sich, denn ebenso viele, wie nach Hamburg einreisen wollten, wollten auch von dort wieder weg. Als wir endlich drin waren, schrieb uns ein Geocacher an, der meinen Live-Ticker im Geoclub-Forum verfolgte, was wir denn für einen Plan hätten, wenn wir dann so zeitig unsere Tour in Münster beendet haben würden. Diese Frage setzte mir einen Floh ins Ohr, der dafür sorgte, dass ich auf einer im Zug aufgesammelten Papiertüte, meinem Unterarm und mithilfe von extrem schlechtem Internet versuchte, eine Möglichkeit zu finden, nach dem voraussichtlich erfolgreichen Ende unserer Tour den allerletzten ICE nach Berlin zu erwischen. Es zeigte sich, dass der von uns geplante Endhalt Münster dafür denkbar ungünstig gelegen war. Das war im Grund auch kein Problem, denn zugegeben war Münster immer recht zufällig gewählt als letzter Halt. Im letzten Abschnitt ging es immer nur darum, irgendwie noch nach NRW zu gelangen. Der konkrete Ort war eigentlich irrelevant. Und so prüfte ich bestimmt ein Dutzend Varianten, von Bremen aus noch Niedersachen und NRW loggen zu können und dennoch den einen, den letzten, ICE zu bekommen, der uns aus jener Region noch nach Hause bringen würde. Es wäre die Kür, das zu schaffen. Es war niemals eingeplant gewesen, aber vielleicht möglich. Wir fühlten uns tatsächlich und sehr unerwartet auch noch fit genug dafür – nach inzwischen über 36h ohne Schlaf. Ich schaute, ob man vielleicht Hannover statt Osnabrück ins Visier nehmen sollte, Minden statt Münster. Aber alles passte nicht so recht zusammen. Ich wollte schon aufgeben, da fand ich plötzlich eine völlig irrwitzige Möglichkeit…
Bremen selbst lief prinzipiell ohne weitere Überraschungen, wir hatten uns abermals aufgeteilt gehabt, aber ich konnte Daniel schon zurück beordern, bevor er überhaupt sein Ziel erreichte. Spannend war dieser Cache allerdings im Vorfeld schon, hatte ich ihn erstens einige Wochen zuvor überhaupt nicht finden können und zweitens war er nur acht Tage vor der Tour unerwartet deaktivert worden; doch der Owner handelte schnell und ersetzte das Logbuch dann noch rechtzeitig.
20:39h, Osnabrück (Niedersachsen): Um den besagten Zug nach Hause erreichen zu können, mussten wir ihn in Bielefeld abpassen. Das bedeutete allerdings, dass wir in Osnabrück lediglich eine planmäßige Umstiegszeit von nur 12 Minuten hatten – und das für einen Geocache, dessen Lage wir nicht kannten. Wir brauchten unbedingt jede Minute! Daniel hatte die vorigen Logtexte des Caches eingehend studiert und hatte eine ungefähre Vorstellung davon, was wir zu suchen hatten. Auf jeden Fall war klar, wir musste auf eine Fußgängerüberführung. Der Zug in dem wir uns aktuell befanden, war nun jedoch tatsächlich der erste seit Frankfurt, der mit einer deutlichen Verspätung von 7 Minuten abgefahren war. Ankommen würde er mit ca. 4 Minuten, so wurde es aktuell prognostiziert. Der RE nach Bielefeld verkehrte aber – gut für uns – aktuell auch mit immerhin einer Minute Verspätung, was uns also 9 Minuten für den Zugwechsel und den Log gab. Eine Herausforderung, der wir uns annahmen, ohne auch nur im Ansatz daran zu glauben. Aber wir hatten nichts zu verlieren. Im Zweifelsfall würden wir einfach einen anderen Zug nach NRW bekommen und damit unsere Challenge sicher abschließen, und dort dann einfach übernachten, wie es eigentlich immer geplant gewesen war. Wir studierten also im Zug den Bahnhofsaufbau und die Karten der Umgebung des Osnabrücker Hauptbahnhofs. Der Laufweg war dann klar. Nun galt es, als erster auszusteigen und zu rennen wie der Teufel.
Daniel nahm nun erstmals beide Rucksäcke und das Klapprad gleichzeitig. Er machte sich so bepackt auf zum nächsten Gleis. Ich selbst rannte raus aus dem Bahnhof, erblickte die Überführung am Ende des Gebäudes. Hindernisse wurden übersprungen, ich hechtete die Treppen hoch. Eigentlich sollte das Ding schnell zu finden sein, den bisherigen Logfotos nach. Leider gab es hier gleich ganz viele der fraglichen Objekte. Ich rannte die Brücke fast komplett ab und brachte dabei irgendwie das Kunststück zustande, alles auch nur halbwegs Interessante abzugrabbeln, doch nichts bewegte sich. Außer einem Splitter im Finger hatte ich nichts gefunden. Ich wurde immer hektischer, doch ich musste leider die Zeit aufwenden, um das Smartphone herauszuholen und noch einmal die Koordinaten zu prüfen. Nochmal zurück. Da war er! In dem Moment hörte ich von unten die Einfahrtsansage für unseren Zug. Ich fummelte das Logbuch raus, klappte den Stempel auf, machte sogar noch ein Foto davon, steckte alles wieder zurück und sprang förmlich die Treppen herunter. Wieder im Bahnhofsgebäude angelangt, wusste ich, ich musste mich irgendwie links halten – und bog just zu früh ab, was mich direkt in eine Sackgasse führte. Ich brüllte gehetzt einfach in die Gegend, wo denn bitte Gleis 11 wäre, was prompt von irgendwoher beantwortet wurde. Ich kam gerade noch rechtzeitig an, um in die Tür des REs zu springen. 8 Minuten – und ich war tot.
ca. 21:40, Herford: Ja, Herford, nicht Bielefeld! Beinahe den ganzen Tag waren wir pünktlich unterwegs und die wenigen Fälle, in denen wir Verspätung hatten, konnten wir ausgleichen. Nun saßen wir im letzten Zug, dem Zug, der uns zum ICE nach Hause bringen würde. Der Zug, der uns über die letzte Ländergrenze fahren sollte. Der Zug, der noch 11 Minuten und zwei kleine Regionalhalte vom Ziel unserer großen Tour entfernt war. Der Zug, der in Herford nach kurzem, regulärem Aufenthalt endlich anfuhr – und direkt noch am gleichen Bahnsteig wieder stehen blieb! „Wir bleiben jetzt hier auf unbestimmte Zeit stehen! Wer auf Toilette muss, kann dies im Bahnhof tun.“ – Eine Ansage, die definitiv nichts Gutes verhieß. „Personen im Gleis.“, wurde noch ergänzt. Der Todesstoß für jede Pünktlichkeit. Im Zweifel hieß das: Bundespolizei, Ermittlungen, totaler Stillstand auf der Strecke, keine Alternativen möglich. 11 Minuten vor dem Ziel!
Was tun? Eigentlich blieben nur zwei Optionen: Wir warten ab – und würden damit höchstwahrscheinlich unseren ICE nach Berlin verpassen, erreichten dafür aber unser Ziel, alle Bundesländer mit der Bahn erreicht zu haben (mit Ausnahme der Taxifahrt in der Nacht natürlich) oder wir könnten uns für diese kurze Strecke noch einmal ein Taxi greifen. Wir waren uns einig. Zwar tat es uns im Herzen weh, aber es war uns dennoch klar, knapp zweieinhalb Stunden vor Mitternacht, dass wir bewiesen hatten, dass diese Challenge prinzipiell mit der Bahn machbar ist. Es war absolut nicht befriedigend, ja sogar höchst ärgerlich, aber der Zug nach Hause war uns jetzt irgendwie wichtig geworden. Wir kapitulierten also – planmäßige 11 Minuten vor dem Ziel (!!!), und griffen uns das nächste Taxi.
Der Fahrer erwies sich als sehr redselig und interessiert an unserer Tour. Und in einem Nebensatz sagte er etwas, das mich aufhorchen ließ. Ich hakte noch mal nach: „Warte mal, heißt das, wir sind schon NRW? Herford liegt in NRW?“. Er bestätigte. Ein Freundenschrei ging durchs Auto und sicher auch raus auf die Straße. Wir hatten es geschafft! Wir hatten die Grenze bereits passiert! Wir waren mit der Bahn nach NRW gekommen! Wir hatten das letzte Bundesland wirklich erreicht!
Ich hätte den Fahrer in dem Moment gern gebeten, noch einmal umzudrehen, damit ich standesgemäß einen Cache in der Nähe vom Bahnhof Herford aufsuchen konnte, doch Daniel schüttelte energisch den Kopf – er hatte vielleicht recht. Es reichte, wenn wir in Bielefeld loggten. Wir würden dann alle Bundesländer geloggt haben, was für die Challenge ausreichte und unser eigenes Ziel war bereits erfüllt. Es gab objektiv keinen Grund, unbedingt in Herford loggen zu müssen.
ca. 22:20h, Bielefeld (Nordrhein-Westfalen): Der Taxifahrer setzte mich mehr oder weniger direkt an der ausgewählten Dose ab und fuhr Daniel direkt zum Bahnhof. Ich wurde schnell fündig, stempelte und fotografierte das Logbuch wie gewohnt und eilte dann hinterher. Die Freude am Bahnsteig war riesig! Wir waren und sind Helden!
22:39h: Wir betraten den überraschend gut gefüllten ICE. Die erste Amtshandlung bestand – natürlich nach dem Sichern zweier Sitzplätze und dem Verstauen des Klapprades -, im Aufsuchen des Bordrestaurants. Das Bierchen und die sehr gute Currywurst-Pommes hatten wir uns nun redlichst verdient.
Der Weg nach Berlin wurde dann immer beschwerlicher. Die Anspannung fiel ab und in gleichem Maße übermannte uns dann doch die Müdigkeit. Gegen 02:00h nachts am Samstag, den 11. Mai, waren wir dann beide zuhause und fielen endlich in unseren wohlverdienten und sehr tiefen Schlaf.
Epilog
Ich bin ehrlich: Ich hätte niemals gedacht, dass wir das wirklich schaffen würden. Ich bin fest davon ausgegangen, dass die Bahn uns einen dicken Strich durch die Rechnung machen würde mit zahllosen Verspätungen oder anderen Eskapaden, aber dem war nicht so. Von der einen Verspätung in Frankfurt und einigen nicht nennenswerten Minuten hier und da abgesehen, lief ausnahmslos alles flüssig – bis eben wenige Minuten vor dem Ziel. Der fragliche Zug war übrigens letztlich 22:25h in Bielefeld und mit etwas Glück und viel Rennerei hätten wir vielleicht doch noch loggen und den ICE noch auf diesem Wege erreichen können – aber das weiß man ja vorher nie. Das Fazit ist letztlich – und ich freue mich ehrlich, das sagen zu können: Die Bahn ist besser als ihr Ruf. Fairerweise muss man allerdings auch erwähnen, dass wir unter wirklich optimalen Bedingungen unterwegs waren: Es war ein Brückentag, das bedeutet, weniger Pendler und die Kurzurlauber waren schon am Vortag unterwegs; außerdem hatten wir absolut durchschnittliches Wetter, nicht zu warm, nicht zu kalt, kein Regen, Schnee oder Sturm.
Letzlich konnten wir aber beweisen, dass es möglich ist, diese Geocaching-Challenge in höchstem Maße umweltfreundlich, ja beinahe vollelektrisch zu absolvieren. Ich bin inzwischen sogar in Anbetracht der dreistündigen Aufenthaltszeit in Frankfurt und der dennoch sehr frühen Ankunft am Ziel sicher, dass man die anfängliche Taxifahrt zur Überbrückung der Betriebsruhe nicht wirklich benötigte und stattdessen entspannt hätte abwarten könnte, bis es wieder losgeht, ja vielleicht sogar generell überlegen könnte, erst nach der Betriebspause zu starten.
Wir hoffen, dass wir den einen oder anderen Geocacher mit unserer Tour inspirieren können und dass sie ein paar Nachahmer findet, die vielleicht zugunsten eines ganz besonderen Abenteuers auf das Auto verzichten und mehr oder weniger entspannt, auf jeden Fall aber ökologischer und auch sicherer, auf die Bahn setzen werden.
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