Es gab eine Zeit, da hatten wir ganze vier Kaninchen. Eine kurze Zeit nur, die allerdings wirklich prägend und ereignisreich war. Es gibt von damals viele, spannende Anekdoten zu erzählen, doch ist es schwer, irgendwo anzufangen in einer Art und Weise, die sich gut erzählen könnte. Warum ich nun gerade mit dem Ende beginne, weiß ich nicht. Vielleicht nur, weil es sich besonders gut in eine Geschichte verpacken lässt, vielleicht aber auch, damit der traurigste Teil einfach schnell vorüber ist…
Wir hatten die Kaninchen nun seit etwas mehr als einem Jahr. Nicht alle natürlich, die Gruppe wurde ja nach und nach vergrößert, aber zumindest unseren – Ihren – ersten, Carlisle. Ein Draufgänger wie er im Buche steht, aber ausgesprochen zahm und sogar einigermaßen stubenrein. Mittlerweile brauchten wir für die ganze Gruppe Streu in Pferdeboxgröße – ja, so etwas kann man wirklich bestellen -, wir ließen uns regelmäßig ganze Kisten voll reichhaltigstem Gebirgsheus kommen und lagerten es zusammen mit dem besten Stroh, das man im Internet kaufen konnte, unter der kleinen Treppe unserer Maisonette-Wohnung.
Doch es wurde Ihr zu viel. Man konnte den Gräserpollen des Heus und dem Holzmehl der Sägespäne vom Streu genauso wenig in der 60qm großen Wohnung entkommen, wie den massenhaften Kaninchenhaaren, die absolut überall und beinahe unsichtbar durch die Luft flogen. Ihr Immunsystem versagte. Heftige allergische Reaktionen waren die Folge. Wir versuchten es eine zeitlang mit Atemmasken, aber natürlich will niemand mit derlei Masken durch die eigene Wohnung laufen müssen.
Es tat immens weh, aber die Entscheidung war unvermeidbar: Wir mussten die Fellknäule mit den langen Ohren abgeben. Es gab niemals die Überlegung, ob man sich nur von einigen trennte, wir wollten sie als die Gruppe vermitteln, die sie inzwischen mehr oder weniger geworden sind.
Erst inserierte ich online in dem Kaninchenforum, das mir in der Zeit so viele wertvolle Tipps gegeben hatte. Doch natürlich hatte keiner spontan den Platz für gleich vier Tiere. Doch ich wurde dort auf eine dedizierte Kaninchennotstation aufmerksam gemacht – ein Aufnahmezentrum für vor allem alte und kranke Tiere. Oder eben für Fälle, wie unserem, bei denen Besitzer nicht mehr in der Lage waren, ihre Tiere weiterhin gut versorgen zu können.
Ich kontaktierte Mandy. Nach einigem Hin und Her war klar: Das ist der Ort, an den wir unsere Lieblinge geben wollten und dies auch guten Gewissens tun konnten: Ein riesiger, gut gesicherter Garten ganz allein für die Langohren, beste Nahrung und medizinische Versorgung, eigene Bereiche für Pflegefälle und Kranke. Besser konnten wir es nicht treffen und vermutlich würden die vier es dort am Ende sogar besser haben, als sie es bei uns jemals hätten haben können. Und wir konnten unseren Teil dazu beitragen, indem wir weiterhin für jegliche Kosten aufkommen durften – nicht mussten, wohlgemerkt, aber es was uns ein Bedürfnis, sie immerhin auf diesem Wege abzusichern zu können.
Wir hatten im Obergeschoss eine riesige Landschaft aus Höhlen, Häusern und Buddelboxen für die Tiere eingerichtet. Schweren Herzens bauten wir also alles ab. Alles, was auch nur ansatzweise noch nutzbar war, luden wir in unser Auto, das sich zusehends füllte. Zum Schluss noch die beiden kleinen Transportboxen mit je zwei Fellnasen und ab ging sie, die lange Fahrt von Berlin nach Heidelberg. Non-Stop, denn wir wollten die Tiere nur so kurz wie irgend möglich belasten.
Mandy half uns mit dem Abladen und dann übergaben wir sie in ihre erfahrene Hände: Den draufgängerischen Carlisle, die viel zu klein geratene und dafür umso agilere Storm, die freche Frieda und die immer etwas ängstliche, aber auch stets mümmelnde Polly.
Leider konnten wir sie nicht in die Freiheit hoppeln sehen, denn sie mussten zum Schutz der anderen Tiere vorerst in Quarantäne gesetzt werden. Aber immerhin hatten sie dort in der neuen Umgebung sich selbst. Es war ein denkbar trauriger Abschied. Sie konnte die Tränen nicht mehr zurück halten, mich selbst übermannte es dann im Hotel. Aber wir wussten: Es war das Beste – für sie und für uns.
Mandy hielt uns zumindest anfangs noch regelmäßig mit Fotos auf dem Laufenden. Spannend war, dass sie aus beruflichen Gründen kurz darauf mitsamt ihrer kompletten Station und ihren zahlreichen Bewohnern nach Mecklenburg-Vorpommern umziehen musste. So hatten wir einmal die Chance, vor einem Urlaub an der Ostsee bei ihrem neuem Bleibe vorbei zu schauen. Ihr war das zu viel, Sie blieb im Auto sitzen. Sie konnte den Anblick nicht ertragen. Insbesondere nicht den Ihres Lieblings, Carlisle.
Sie hatte ihn aufgezogen, aber wir wussten, dass es ihm leider nicht besonders gut gehen würde. Ihm wurde von den anderen Kaninchen bei der Einführung in die große Gruppe wohl sehr übel zugesetzt bei Kämpfen um die Rangfolgen. Generell ein absolut normales Verhalten, aber er hatte wohl tiefere Wunden davon getragen und befand sich aktuell allein in einer Isolationsbox der Krankenstation. Früher kam er immer als erster ans Gitter, wenn wir uns näherten, doch als ich mich ihm nun näherte, sprang er scheu zurück. Er erkannte mich nicht mehr, was mir das Herz brach, mich aber nicht überraschte. Kaninchen wird nur ein Sechs-Monats-Gedächtnis zugesprochen.
Die anderen drei waren draußen mit den vielen anderen Langohren unterwegs. Polly, wie immer ein wenig separariert, aber natürlich futternd. Frieda mischte gerade ein kleines Grüppchen mir unbekannter Tiere auf und Storm schlief irgendwo im Schatten. Ein schöner, friedlicher Anblick. Bei ihnen hatten wir alles richtig gemacht.
Ein paar Wochen später bekamen wir dann leider die traurige Nachricht, dass Carlisle sich nicht mehr erholen konnte und letztlich erlöst werden musste.
Vielleicht ein Jahr später dann die nächste Hiobsbotschaft: In der Kaninchenstation ist RHD ausgebrochen – eine tödliche, hoch ansteckende Krankheit. Zwar waren alle Tiere geimpft, doch heute weiß man, dass es sich dabei um einen neuen Erreger handelte, heute einfach RHD2 genannt. Die meisten Tiere fielen dem wohl zum Opfer. So leider auch Frieda und Polly.
Über die Jahre wurde es dann still um Mandy. Ich bekam keine E-Mails mehr und hatte sie fast vergessen. Doch letztlich kam dann doch noch die unvermeidliche Nachricht aus dem Norden. Storm hatte ein unheilbares Nierenleiden und wurde als letzte unserer Gruppe über die Regenbogenbrücke hoppeln gelassen. Das allerdings wird Sie nicht mehr erfahren, denn Sie gab es zu dem Zeitpunkt nicht mehr in meinem Leben.
Alles in allem wurden sie nicht besonders alt. Kaninchen können durchaus so alt wie Katzen werden, doch häufig machen schwere Krankenheiten dem einen Strich durch die Rechnung, wie eben bei dreien von unseren.
Ich habe noch heute ein Sweatshirt mit einem V-förmigen Loch. Eine sehr typische Form, wenn ein Kaninchen hineingebissen hat. Ich erinnere mich noch sehr genau an diesen Moment, als Carlisle auf mich hinaufkroch und dann gemütlich anfing, dieses Kleidungsstück anzuknabbern. Neben den kaputten Buchrücken in meiner Bibliothek (das ist eine andere Geschichte!) das einzige physische Andenken, das mir aus dieser Zeit geblieben ist.
Tatsächlich muss ich jedoch auch gestehen: Heute bin ich ein wenig froh, dass wir sie weggegeben haben. Denn ich weiß ehrlich nicht, ob ich den enormen Aufwand, den wir betreiben mussten, um den vieren ein einigermaßen artgerechtes Leben zu ermöglichen, wirklich über mehrere Jahre hätte durchhalten können.
Macht’s gut, ihr vier! Ihr ward nur sehr kurz ein Teil meines Lebens – und doch fühlte sich diese Zeit sehr viel länger an, als so manch vergleichbare. Wie bei Kindern, denen ein Jahr unendlich lang vorkommt, weil sie immer neue Sachen erleben und neue Eindrücke verarbeiten müssen. Genauso war es bei mir mit euch vier Fellknäulen und euren acht langen Ohren.
Ein neuer Anfang
Sie konnte nicht ohne Tiere. Und so kam es, dass nur ein halbes Jahr später sehr plötzlich jemand neues bei uns einzog. Dieser Jemand sitzt noch immer, über zehn Jahre später, neben mir und schnurrt mich an.
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