Einen Stapel Papier unter den Armen rannte er die mit grünem Neonlicht beleuchteten Gänge entlang. Seltsame, ebenfalls grüne Symbole bewegten sich unentwegt abwärts entlang der Wände zu allen Seiten. Er musste all das hier retten und das konnte er nur mit diesen Formularen…
Jemand rief wiederholt seinen Namen. Als er seine Lider aufschlug, brannten sich Strahlen gleißendes Lichts in seine Augen. Es fühlte sich an, als würden zwei glühende Dolche direkt in seine Netzhäute gestochen werden. Geräusche. Da waren überall Geräusche. Technische Signale, für ihn nicht zu verorten strömten sie aus allen Richtungen auf ihn ein. Ein aufgeregtes Stimmengewirr mischte sich darunter. Es nahm ihm jegliche Orientierung. Gerade noch beschäftigt mit der Rettung der Matrix mittels Bürokratie, nun abrupt hineingeworfen in diese Hölle aus akustischen und visuellen Stimulationen, musste er lauthals aufgeschrien haben, denn die Stimme, die eben seinen Namen gerufen hatte, ermahnte ihn nun, doch bitte leiser zu sein.
Es wurde noch schlimmer. Sein Hinterkopf schmerzte. Es war ein ihm bis dato unbekannter Schmerz, der in seinem Kopf geradezu explodierte. Selbst seine Nase schien ihm den Dienst zu versagen. Er wollte einatmen, doch das ging nur durch den Mund, der allerdings damit beschäftigt war, zusammenhangslos willkürliche Sachen zu schreien.
Er wollte nur raus aus dieser Situation. Doch er war völlig hilf- und orientierungslos. Unfähig, sich zu bewegen oder nur verständlich zu machen verkrampfte er am Geländer seines Krankenbettes im Aufwachraum der Chirurgie. Tränen liefen ihm die Wangen herunter. Mit einem Mal war er still, die Ermahnung der Krankenschwester hatte nun sein Bewusstsein erreicht. Er verstand. Bis jetzt war ihm nicht bewusst gewesen, dass er überhaupt etwas gesagt hatte. Zu tief war er in dem absurden Albtraum in grün versunken gewesen, zu abrupt war der Wechsel in die Realität. Und so brutal. Er krampfte noch immer, und nun setzte ein hilfloses, heftiges Weinen ein. All dies dauerte wohl nur wenige Sekunden – vom Aufwachen bis zum totalen Zusammenbruch.
Die Krankenschwester erfasste die Situation perfekt. Unmittelbar legte sie ihm einen Lappen auf die Augen, um ihn vor der Helligkeit zu schützen, steckte ihm Ohrenstöpsel in die Ohren. Irgendwie musste er die höllischen Kopfschmerzen erwähnt haben, denn in den nächsten Momenten spürte er etwas Kaltes die Venen seiner linken Hand empor fließen und der Schmerz ließ unmittelbar nach. Nasentropfen, um wieder frei atmen zu können.
„Du bist Autist?“, stellte sie in einem ruhigen, fast mütterlichen Ton mehr fest als dass sie es wirklich fragte. Er nickte nur. So langsam konnte er sich beruhigen, die Sinneseindrücke ordnen. Er beruhigte sich langsam und alles begann wieder klarer zu werden.
Er war ihr unendlich dankbar.
Ich wollte schon immer etwas über Autismus schreiben. Ein Thema, das noch viel zu viel mit Vorurteilen versehen ist oder damit zu kämpfen hat, dass es von Mitmenschen gern heruntergespielt wird. Nur leider fehlte mir bisher ein guter Einstieg. Aber diese Situation, die ich dieser Tage selbst durchgemacht habe, empfinde ich als prädistiniert dafür.
Externe Reize sind ein großes Problem für die meisten Autisten. Sie werden oft sehr viel intensiver wahrgenommen, als von anderen Menschen. Insbesondere, wenn es viele Reize sind, die sehr unvermittelt auf sie einprasseln, können dazu führen, dass Autisten wortwörtlich zusammenbrechen. Ich selbst komme oft gut damit zurecht, denn ich habe im Laufe meines Lebens einige Strategien entwickelt, mit Reizflutungen umzugehen. Oft vermeide ich Gegenden, in denen ich unkontrollierten oder nicht ortbaren Reizen ausgesetzt bin. Oder ich versuche, mich langsam zu steigern, erst die Geräusche sortieren, dann das Licht anmachen. Doch hin und wieder kommt es vor, dass ich mich einer Situation auch aktiv entziehen muss, weil ich sie anfangs unterschätzt hatte. Ich erinnere mich an eine Panikattacke auf einem eigentlich unscheinbaren Volksfest oder dem bisher schlimmsten Ereignis: Ein Silvester auf den Hamburger Landungsbrücken, an dem ich nach nur wenigen Minuten heulend an der Wand einer U-Bahnstation endete.
Ich selbst falle noch in die Kategorie „hochfunktionaler Autismus“, da ich die Fähigkeit entwickelt habe, an einem normalen gesellschaftlichen Leben weitestgehend unauffällig teilnehmen zu können und meine physische und psychische Entwicklung sich von denen anderer Menschen kaum unterscheidet. Doch das Autismusspektrum ist größer, viel größer. Und ich will mir nicht vorstellen, wie andere Autisten auf den oben beschriebenen Moment wohl reagiert haben mögen. In jedem Fall kann ich von Glück sagen, dass ich eine derartig besonnene Krankenschwester am Bett hatte. Ohne sie hätte es sehr viel schlimmer enden können.
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