Ruminarium

Zurschausstellung meiner Grübeleien


Vom Stress, etwas wegen Stress zu verpassen

Eigentlich müsste ich jetzt gerade auf einem Firmen-Event sein. Socializing. Kollegen kennen lernen. Mal wieder ein Event, das ich verpasse.

Eigentlich hätte ich am Montag das Konzert in dem kleinen Theater verpassen sollen, habe mich aber hingequält, obwohl es mir hundeelend ging.

Eigentlich habe ich am kommenden Sonntag ein anderes Konzert – und Angst, es zu verpassen.

Eigentlich habe nächsten Mittwoch eine Lesung – und Angst, sie zu verpassen.

Die Angst, etwas zu verpassen – The Fear Of Missing Out. Oder wie es in Neudeutsch heißt: FOMO. Sie ist ein ständiger Begleiter, war sie schon immer. Es könnte ja das letzte Mal sein, dass der Künstler auftritt. Oder ausgerechnet bei jener Party passiert das eine legendäre Ereignis. Oder, was wenn heute der Moment gekommen wäre, um mal wirklich vor den Vorgesetzten zu strahlen oder einen Kollegen zu einem Freund zu machen?

Ich habe in der Jugend zwei legendäre Partys verpasst; meine Abwesenheit wird mir heute noch mitleidig vorgehalten. Ich habe damals bei Rock am Ring 2012 lieber Motörhead gesehen als Linkin Park. Die Sänger beider Bands verstarben kurz darauf; egal wie ich mich entschieden hätte, eine der legendären Bands konnte ich in meinem Leben nicht mehr sehen. Aber es nervt, dass ich nie Chester Bennington live erleben konnte, obwohl ich die theoretische Chance gehabt hätte – nur wenige 100m weiter. Anders lief es 2022: Hätte ich mich nicht mit eigentlich totaler Nach-Covid-Schwäche zum Die Toten Hosen-Konzert nach Düsseldorf gequält, hätte ich den einen Moment mit Die Ärzte auf der Bühne verpasst und hätte es auf ewig bitterlich bereut. Es gibt immer etwas zu verpassen. Aber es wird immer schwerer, mit allen Gelegenheiten mitzuhalten.

Je älter ich werde, desto mehr merke ich, dass meinem Stresspegel immer schwerer beizukommen ist. Die Erholungsphasen werden länger. Das Schlafbedürfnis ist ein Dauerzustand, ebenso wie ein latentes Krankheitsgefühl. Weil man als junger Mensch ungleich schneller regenerieren kann, war das Thema Stress für mich früher eher bedeutungslos. Erst in den letzten Jahren wurde es für mich zunehmend relevanter. Durch den Autismus ist der Stresslevel zu jedem Zeitpunkt schon im Normalfall deutlich höher als bei anderen Menschen. Das große Thema lautet inzwischen: Energiemanagement.

Es handelt sich dabei um das zentrale Thema beim Autismus. Wie kann ein Autist mit seinen sehr beschränkten Energiereserven umgehen? Wie kann sicher gestellt werden, dass genügend Regenerationszeit im Leben vorhanden ist? Wie kann man seinen Energieverbrauch im Alltag reduzieren?

Und hier entsteht eine schier unüberwindliche Kollision: Viele – auf welche Art auch immer – beeinträchtigte Menschen fühlen sich schnell ausgegrenzt, unfähig das Leben so zu erleben wie andere das tun. Die Angst, etwas zu passen. FOMO. Aufgrund von Barrieren, seien sie physischer Art wie Zugangsbeschränkungen oder eben psychischer Art. Man kann nicht alles tun und erleben, was andere gerade tun. Man kann nicht mitreden, man verpasst etwas. Beim Autisten ist die Barriere eben (neben zahlreichen Möglichkeiten von Reizüberflutungen und anderen Problemen) die sehr begrenzte Energie.

Bei mir ist FOMO sehr stark ausgeprägt. Ich packe meine Freizeit voll mit Aktivitäten, weil ich neugierig bin, weil ich viele verschiedene Dinge sehen, lernen und erleben will, aber eben auch, weil ich schlicht Angst habe, DIE eine Sache zu verpassen, die ich mir das restliche Leben vorwerfen würde. Die Party, auf die ich nicht eingeladen war. Und dieses Gefühl der Angst erhöht natürlich wiederum den Stresspegel.

Ich werde älter. Die Fähigkeit Stressresistenz ist mir schon vor Jahren abhanden gekommen. Die Regenerationsphasen werden länger, und der Körper fordert sie immer öfter. Der Stress führt auch dazu, dass ich immer häufiger und länger krank bin oder mich zumindest oft so fühle. Die Reizüberempfindlichkeit des Autismus wirkt dafür noch als zusätzlicher, negativer Verstärker für jede Art von ungewohntem körperlichen Empfinden. Ich hatte immer den Ansatz, mir von meinem Körper nicht mein Leben einschränken lassen zu wollen. Ich wollte nie zu so einem Menschen werden, der nichts mehr unternimmt, weil es heute im kleinen Zeh kribbelt und morgen das Augenlid zucken könnte und gestern ja auch schon der Fingernagel eingerissen war. Ich wollte nie zu einem Menschen werden, der irgendwann seine zahllosen Zipperlein vorschiebt, weil er verlernt hat, seinen Schweinehund zu besiegen, den Arsch hochzukriegen, weil es ihm ja ach so schlecht geht und an dem letzlich das Leben jenseits der Glotze vorbei rauscht. Der letztlich nur darauf wartet, dass er eines Tages tot umfällt.

Und doch habe ich mehr und mehr das Gefühl: Der Körper schränkt mein Leben ein. Das fühlt sich scheiße an.

Ich habe dieses Jahr schon viele Sachen absagen müssen. Aufgrund echter und viel zu häufiger Krankheit, aber auch aufgrund von unbestimmten Gefühlen der Schwäche, dem Fehlen von Regeneration – oder auch nur der Erwartung dessen. Und natürlich stresst auch die Trauer einer solchen Absage jedes einzelne Mal immens. Um Stress zu reduzieren, legt man sich also den zusätzlichen Stress der Absage auf, anstelle den potentiellen Stressabbau bedingt durch Glücksgefühl und Freude am Event mitzunehmen. Es entsteht ein Teufelskeis.

Dabei ist es nicht einmal nur so, dass man nur einfach Konzerte absagen muss, auf die man sich monatelang gefreut hat. Die eigentlich kleine, aufheiternde Momente fernab des Arbeitsalltags oder des beschissenden Weltgeschehens sind. Mit deren Absagen man Geld das Klo runterspült, das man schon ausgegeben hatte, um Tickets, Hotels oder auch Katzensitter zu bezahlen.

Nein, es geht auch um die eigene, persönliche Reputation. Die Verlässlichkeit. Je öfter man Freunden und Bekannten absagt, sie verschiebt oder vertröstet, desto weniger kommen sie irgendwann auf dich zu. Sie unternehmen Dinge allein, sie planen ohne dich – ist ja einfacher zu planen für sie. Es finden irgendwann Dinge statt, an denen du nicht mehr teilnimmst – nicht, weil du sie abgesagt hast, sondern weil dir schlicht niemand mehr davon Bescheid gegeben hat. Weil du einfach nicht mehr verlässlich bist. Es ist nicht mehr nur FOMO – es geht um die komplette Sozialisierung. Es geht also auch um die Angst, nicht mehr gefragt zu werden, die Angst, ausgegrenzt zu werden.

Ich glaube, ich bin nun langsam in einer Situation, in der ich lernen muss, meine autismusbedingten Einschränkungen zu akzeptieren und zu schauen, wie ich FOMO, Sozialleben und den eigenen Energiehaushalt mehr und mehr unter einen Hut bekomme. Ich bin noch immer im Kopf an der Stelle, dass ich mir eigentlich nicht erlauben will, mein Leben einzuschränken. Die zahllosen schönen Dinge, die man noch nicht gesehen und ausprobiert hat, für alle Zeiten ungesehen und ungetan zu lassen. Und doch ist es wohl an der Zeit, in der ich damit irgendwie zurecht kommen muss. Und natürlich macht mich dieser Gedanke traurig und zieht mich unfassbar nach unten – und stresst.

Und bis ich letztlich irgendwann wirklich so weit bin, mein Leben umzustellen, bis dahin werde ich wohl noch sehr viel Geld für ungenutzte Tickets das Klo runterspülen. Leider. Bestimmt verpasse ich dann ganz viel.



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