Ruminarium

Zurschausstellung meiner Grübeleien


Jekyll & Hyde – Eine Reise

Dr. Jekyll

Der kleine Dieselzug suchte unablässig schnaufend seinen gewundenen Weg durch den Thüringer Wald. Dörfer zogen vorbei und an manchen Halten wollte nicht einmal der kleine Zug anhalten und neue Kräfte tanken.

Unwillkürlich zog ich meine Jacke noch etwas fester zusammen, als ich bemerkte, dass wir inzwischen in Höhen unterwegs waren, wo sich noch weite Schneefelder zeigten. Wir sind in Erfurt von dem geschmeidigen, schnurrenden ICE in den, etwas in die Jahre gekommenden, Dieseltriebzug eingestiegen waren. Die Menschen hier drin sahen müde aus, fertig von der ständigen Pendelei in die große Stadt und doch froh, endlich wieder nach Hause zu fahren. Es war eine entspannte Stimmung während einer entspannten Fahrt. Ich war glücklich, dass wir uns am Abend vorher doch noch entschieden hatten, nicht das Auto eines Freundes zu nutzen – ein Plan, den wir der Katze zuliebe hatten, um im Zweifelsfall doch nachts nach Hause fahren zu können. Doch der Katze ging es so weit wirklich gut und deshalb konnten wir uns der Entspannung der Schiene hingeben.

Der Abend sollte etwas Besonderes sein. Ein Theaterbesuch gänzlich weg von den aufdringlichen Theatern der Berliner Großstadt. Wir freuten uns seit Monaten darauf. Das Staatstheater Meiningen. Eine Unterkunft wartete schon und sicherlich würde sich auch ein gemütliches Lokal finden, wo wir vorher noch gemütlich einkehren könnten.

Gegen Mittag waren wir in Berlin abgefahren und entspannte vier Stunden später standen wir nun auf dem kleinen Meininger Bahnhof, nur flankiert von den zahlreichen Brüdern und Schwestern unseres tapferen Zuges. Der hatte sich seine Auszeit jetzt redlich verdient. Im Gegenzug dazu sollte unser Abend erst beginnen und so zog es uns dann Richtung Innenstadt. Wir hatten großzügig geplant und deshalb hatten wir absolut keine Eile und blieben hier und da stehen, um die Eindrücke der hübschen Altstadt auf uns wirken zu lassen. Es war zwar nicht viel los, doch der Schornstein eines vielversprechenden Wirtshaus dampfte einladend. Gleich würden wir darin sitzen und aus einer Ecke heraus den einheimischen Geschichten lauschen. Wir wollten nur schnell das Reisegepäck abstellen und standen nun vor dem wirklich gemütlich aussehenden Hotel.

Mr. Hyde

Die Tür war verschlossen.

Eine Telefonnummer war schnell gefunden und eine sehr nette Dame an der anderen Seite der Leitung gab uns schnell und unkompliziert Instruktionen. Ob wir denn heute Abend ins Theater gehen würden, fragte sie des Smalltalks wegen. Ja, wir freuten uns darauf. Die Dame betonte, dass wir ja Glück gehabt hätten, denn die Lesung sei völlig ausverkauft.

Ich stutzte. Lesung? Nein, wir würden ein Musical sehen wollen. Sie insistierte energisch. Es wäre definitiv eine Lesung geplant für heute. Noch im Hotelflur stehend zückte ich meine Eintrittskarte. Es wäre ja nicht da erste Mal, dass ich mich in einem Datum geirrt hätte. Nein, es passte. Ich wollte gerade noch einmal widersprechen, da fiel mir etwas auf…

Jekyll & Hyde stand da. Und darunter fett gedruckt Musiktheater des Staatstheaters Meiningen. So weit, so gut. Doch dann fiel der Blick auf die Adresse, klein gedruckt, ganz oben. Landestheater Eisenach.

Wir waren nicht am falschen Tag unterwegs, es war schlimmer. Wir waren am falschen Ort.

Umgehend prüften wir die Situation. Wir hatten ein Hotel, das wir nicht mehr stornieren konnten, wir hatten noch nichts Richtiges gegessen seit Stunden und der nächste Zug würde uns nicht mehr rechtzeitig nach Eisenach bringen. Sollten wir uns einfach dem Schicksal ergeben und hier bleiben? Oder einfach wieder nach Hause fahren, um wenigstens den Sonntag genießen zu können?

Ich rief in der Taxizentrale an. „Nein, ich habe gleich eine Fahrtbestellung, ich kann Sie nicht mehr nach Eisenach fahren. – Welcher andere Fahrer?“ Auch in der zweiten Taxizentrale Meiningens hatte man keine Ambitionen, sich für einen dreistelligen Betrag die Mühe zu machen. „Ich habe schon Wochenende.“, tönte es auf der anderen Seite und ich lernte: Am Samstag-Abend ist nicht nur nichts los in der eigentlich hübschen Stadt – Meiningen ververfügt offenbar auch nur über genau einen Taxifahrer. Hätten wir doch bloß dieses blöde Auto genommen!

Wir wandten uns zum Gehen. Hier bleiben wollten wir nicht, und egal, was uns am Bahnhof in den Sinn kommen sollte, wir sagten erst einmal der netten Dame ab, die sich sehr betroffen zeigte von unserem Missgeschick. Noch bevor wir den Bahnhof wieder erreichten, meldete sie sich noch einmal mit einem ausgeklügelten Plan, wie wir mit beidseitiger Bestätigung die Buchungsplattform dazu bringen könnten, eine kostenlose Stornierung zu erreichen. Sehr freundlich.

Der Zug nach Eisenach stand schon am Gleisanzeiger angeschrieben. Sechs Minuten. Wir schauten uns tief in Augen. Wir hatten nichts mehr zu verlieren. Wir hatten nur Hunger. Sechs Minuten und ein bisschen Kleingeld reichten, um den Automaten am Bahnsteig um ein paar Salami-Würstchen zu erleichern. Vier von fünf kamen sogar raus. Vier Minisalamis für zwei hungrige Erwachsene – das passte. Wir waren auf dem Weg nach Eisenach. Wir riefen noch im Theater an, ob man uns denn wohl reinlassen würde mit etwa zwanzig Minuten Verspätung, das schien kein Problem. Und wenn nicht, müssten wir bis zur Pause warten, aber dann wären es wohl noch zwei weitere Stunden.

Der Taxifahrer am Eisenacher Bahnhof erfasste sehr schnell unser Dilemma und drückte ordentlich auf das Gaspedal, was allerdings die roten Ampeln nicht sonderlich zu beeindrucken schien.

Und dann standen wir im leeren Theater-Foyer. Schnell schaute ich mich um, niemand zu sehen. Schnell die Treppen hoch! Kurz vor der Saaltür erblickte ich dann doch noch einen Mitarbeiter, gemütlich schwatzend an der Bar sitzend. Unbeeindruckt von unserem Erscheinen erhob er sich, zeigte sich aber keineswegs unwillig, uns hinein zu lassen. Wenn wir eine Karte hätten, würde ja nichts dagegen sprechen.

Und so kamen wir dann doch noch in den Genuss eines schönen Theaterabends in einem ebenfalls sehr schönen Theater. Nur eben am falschen Ort.



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